Almut E. Broër kommt vom
Surrealismus. Aber anders als ihre Meister malt
sie nicht nie gesehene Traumfiguren wie
realistisch, sondern sie bringt etwas weitgehend
Reales ins Bild, hinter dem durch Farbe und
Kombinatorik ahnbar die Alpträume lauern.
Was gibt es denn einfacheres als eine Strichliste.
Simpel und pedantisch wird die Anzahl
festgehalten. Auch völlig abstrakt. Worum auch
immer es geht, es wird auf seine bloße Zahl
reduziert. Noch nicht einmal die besondere Zahl,
nur die Addition vieler gleich-förmiger Striche.
Um sich die hier notierte Menge vorzustellen, wäre
es gut, die so geringstmöglich reduzierten Objekte
wieder zu konkretisieren und jedem Strich auf
dieser Liste… es ist tatsächlich eine Todesliste …
wieder ein Gesicht zu geben.
Die Strichliste ist die minimalste Form, die
Anzahl der monatlich, täglich, stündlich Getöteten
bewusst zu machen. Und vielleicht ist es sogar
eine Art metaphysische „Wiedergutmachung“, diese
bürokra-tisch-unmenschlichen Striche wieder zu
vergegenwärtigen, oder mit skulptural erstellten,
verschattet-leeren Passfotos und leeren Klei-dern
zumindest im Ansatz den Seelen wieder eine
Flucht-Form zu bieten.
Denn das meiste hier Gezeigte hat mit der
Massenvernichtung der jüdischen und Roma-
Bevölkerung im besetzten Polen 1942 zu tun. In
wenigen Monaten wurden bei der sogenannten „Aktion
Reinhardt“
in drei Vernichtungslagern mindestens 1,5
Millionen Menschen in maschineller Routine
getötet. So stolz einzelne verantwortlich
Betei-ligte auf ihre besonders effizient
organisierte Leistung waren, so sehr wurde doch
auf Geheimhaltung geachtet: Anschließend wurde
alles abgerissen, frisch begrünt und mit einzelnen
Bauernhöfen überbaut: Die Mordstätte als
idyllische Landschaft, deren negative
meta-physische Energie, deren „Seelenklima“ schwer
vorzustellen ist.
Aber wenn
sonst schon nichts an der schrecklichen
Vergangenheit zu ändern ist, wenigstens sollte sie
nicht vergessen werden.
Almut E. Broër möchte mit ihren mehrdeutigen Bildern
dieser Ausstellung „Wegsehen > Wege sehen“ das
„unter den Teppich gekehrte“, also das vorsätzlich
Vergessene, wieder in Erinnerung rufen – ohne auf
monumentale Formen der Erinnerungskultur
zurückzugreifen. Die hochaufragenden Stelen werfen
bestenfalls Schatten auf die begrünten Gräber, das
Licht in der Ferne, ohnehin kaum erreichbar, gehört
ja nicht zur bewussten Inszenierung. Aber ist ein
solches Bild nicht vielleicht auch ein
Architekturentwurf? Eine schön ordentliche
Hochhaussiedlung im geometrisch geordneten Grün? Und
haben beide Lesarten des Bildes „Schattenstille“ gar
etwas miteinander zu tun? (Die sogenannten „68“er
ahnten, dass hinter der betonten Ordnung ihrer Väter
oft das Grauen lauerte.)
Nicht heroische Gesten und gutgeputzte Bronzelettern
verhindern Unmenschlichkeit und Terror, sondern
genaue Aistesis und eine Offenheit für verschiedene
Interpretationen der Welt. Ob das etwas mit den
Seelen zu tun hat und ob dabei gewisse Apparaturen
helfen, ist schwer zu sagen, sicher aber bestimmt es
das gesellschaftliche Klima.
Im Schriftbild unterscheidet sich das angstbesetzte
„Wegsehen“ und das offene „Wege sehen“ nur durch
einen Buchstaben. Es ist auch nur ein Buchstabe, der
die allerdings etymologisch ganz unter-schiedlichen
Wörter „Trauma“ und „Traum“ trennt. Möge letzterer
das erstere überwinden. Das ist übrigens nicht nur
ein frommer Wunsch, sondern auch eine genuin
surrealistische Idee … aber das ist dann eine ganz
andere Geschichte. Und manchmal ist ein Stuhl auch
nur ein Stuhl und nicht der Platz vergangener und
gegenwärtiger Foltern.