Was hinter den Bildern lauert. Text zur Eröffnung „Wegschauen-Wege schauen“ am
27.10. im EINSTELLUNGSRAUM | HAJO SCHIFF |
KUNSTMITTLER
Listen, gereihte Dinge, Stühle
und im Keller auch Landschaften sind zu sehen.
Dazu einige Porträts. Was hat das alles zu
bedeuten? Zumal in einer Ausstellungsreihe
mit dem nicht ganz einfachen Titel „Seelenklima“?
Es gibt einen sehr empfehlenswerten und
informa-tiven Text von Almut E. Broër dazu, doch
bei allen Unterschieden in der Technik und in der
Darstellung kann das explizit dargelegte Thema
dieser Ausstellung den ersten freien Blick auf die
Arbeiten vielleicht sogar eher verstellen als
erhellen.
Almut E. Broër
ist lange genug Künstlerin und lange genug politisch aktiv
(und das immer, wie die gewerkschaftlich
engagierte Künstlerin einmal sagte, balancierend
zwischen freiem Malschwein und genauer
Soziologin), lange genug dabei, um zu wissen, es
geht bei Kunst weder um Dekoration noch um
Werbung, also nicht um die Herstellung von schönem
Schein, aber auch nicht um die plakative
Formulierung einer direkten Botschaft. Eigentlich
geht es immer um die grundlegende Frage: Was ist
ein Bild und wie können wir es wahrnehmen?
Nun kann dieser Text kein Seminar sein –
auch wenn im „Einstellungsraum“ oft durchaus sehr
philosophisch argumentiert wird.
Also: Die Grundlage der Ästhetik ist die
Wahrnehmung (das griechische Wort „Aistesis“
bedeutet nichts anderes). Diese Wahrnehmung ist
immer die eigene, immer subjektive Interpretation
dessen, was in der Welt der Fall ist. Es gibt
keine eindeutig richtige, aber auch keine
eindeutig falsche Wahrnehmung. Das ist deshalb so
wichtig, weil es sonst keine Innovation und keine
Freiheit gäbe, keine Geschichte und keine Künste.
Selbstverständlich
wird es schwierig,
wenn die Wahrnehmung zu gänzlich kontrafaktischen
Ergebnissen kommt, aber die kontinuierlich
wachsende Summe der subjektiven Wahrnehmungen
konstituiert im Kontext und mit dem Abgleich der
Sichtweisen der anderen im sozialen Feld einen
brauchbaren
Ausschnitt
des Möglichen. Was aber die Einschränkung der
Interpre-tations-Möglichkeiten, die Reduktion der
Lebensverhältnisse und Sichtweisen für ein jede
Vorstellung sprengendes Desaster anrichten kann, hat
die Geschichte in der ersten Hälfte des letzten
Jahr-hunderts mit ihren totalitären Regimen in aller
Deutlichkeit gezeigt. Und noch immer gibt es auf der
Welt massive, manchmal im Ansatz ganz gutgemeinte
Versuche, in Politik und Wirtschaft, in
Kommu-nikation und Religion, ja sogar in der
Wissenschaft, alle Wahrneh-mung eindimensional
auszurichten und zu verabsolutieren, bis hin zum
Satyrspiel unserer derzeitig modischen
Sprachrege-lungen und gefühlig überhöhten
Diskriminierungs-Diskurse.
Was bietet sich nun hier zur Wahrnehmung an? Ohne
den höchst eigenen Zugang einzuengen, hier einige
Hinweisen zum Detail… dass das ganze Kunstsystem
selbst eine große Täuschung ist, ist ja von Plato
bis zum byzantinischen Bilderstreit hinreichend seit
Jahrtausenden ausdiskutiert. Und in dem aktuellen,
pausenlos und überall abgerufenen Informations- und
Bilderüberangebot ist es noch deutlicher, dass ein
Bild allein nicht wahr sein kann, dass nicht
entscheidend ist, was es ist, sondern wofür es
steht, was es sein könnte, welche Zusammenhänge zu
erstellen es mithilft oder eben verbirgt.
Es gibt Bilder von beispielsweise brasilianischen
Traumstränden mit feinstem Sand, einigen malerischen
Felsen, kristallblau funkelndem Wasser und dahinter
der tropische Wald in allen Grüntönen… was aber
nicht auf diesen Fotos ist, sind die Heerscharen von
Mücken und von Beissfliegen, sogenannte Borrachudos,
die einen Aufenthalt. in solch realer Fototapete
praktisch unmöglich machen. Das ist dann im wahrsten
Sinne „Ent-täuschend“. Doch es ist noch ein relativ
wenig schlimmes Geheimnis hinter einem Bild. Aber
auch historische Schlachtfelder sehen ja meist recht
freundlich aus …über Blut und Eisen ist längst Gras
gewachsen. Auch für die Strände des Mittelmeeres
oder die Wälder an der EU-Außengrenze gilt: das Leid
des aktuellen Geschehens schreibt sich der
Landschaft nicht ein, erst dann, wenn große Zäune
und Mauern errichtet werden.
Der 10. Beitrag zum
Jahresprogramm SEELENKLIMA
des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2021