Der wohl differenzierteste ›Empfänger‹ von Sinneseindrücken im menschlichen Wahrnehmungsapparat ist das Ohr, durch das wir affektiv in die Welt eingebunden sind. An der Binsenweisheit, dass man die Augen verschließen kann, die Ohren aber nicht steckt ein Funken Wahrheit. Denn beim Hören ›empfängt‹ das Trommelfell einen akustischen Reiz in Form von Schallwellen, also in Bewegung versetzter Luft, und wandelt ihn in elektronische Impulse um, die dann an das Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet werden. Die zum Beispiel bei sehr lauten oder auch sehr schönen Tönen enorme Bewegungsenergie der Luft kann das Trommelfell allerdings nicht durch eine motorische Reaktion erwidern, sondern eine affektive Spannung, die den ›erlittenen‹ Reiz verabeitet.
Es gibt zu diesem Aspekt eine dichte Passage aus einem Buch des französischen Philosophen Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, die ich hier kurz zitieren möchte:

[W]enn wir, als lebendige Materie [...] manche unserer Seiten zu rezeptiven Organen ausgebildet haben, so geschah es um den Preis ihrer Unbeweglichkeit, während wir unsere Aktivität an Reaktionsorgane delegiert haben, die seitdem frei beweglich sind. Wenn unter diesen Umständen unsere fixierte rezeptive Seite Bewegung absorbiert, anstatt sie in einer Brechung abzulenken, kann unsere Aktivität nicht mehr anders antworten als mit einer »Strebung«, einer »Anspannung«, welche die [...] örtlich unmöglich gemachte Aktion ersetzt. Von daher stammt der sehr gute Definitionsvorschlag Bergsons für den Affekt: Dieser ist »eine Art motorischer Strebung in einem sensorischen Nerv«, das heißt eine motorische Anstrengung auf einer unbeweglich gemachten rezeptiven Platte.
Vor dem Hintergrund von Deleuzes sehr komplexer, gleichsam ›motorischer‹ Analyse lassen sich durch Musik oder Lärm ausgelöste
Gefühle als Resultat  einer phylogenetischen Entwicklung begreifen, die den Affekt im Zwischenraum eines unterbrochenen Reiz- Reaktionsschemas angesiedelt hat. Wir ›empfangen‹ einen akustischen Reiz, dessen physikalische Energie nicht ausreichend kompensiert werden kann und der in eine Art emotionale Energie umgewandelt wird, die sich dann als Affektion bzw. als ›Gefühl‹ artikuliert. Dieser Vorgang könnte sich über die Jahrtausende hinweg in unseren kognitiven Strukturen zu festen Verbindungen von Klang und Gefühl abgelagert haben. Das machte zumindest teilweise plausibel, warum wir überhaupt etwas ›empfinden‹ wenn wir Musik ›empfangen‹.
Deleuzes Rede von einer ›Strebung‹ oder ›Anspannung‹ lässt sich auch mit dem Begriff ›Ton‹, der ja das Motto der diesjährigen Ausstellung-Serie im EINSTELLUNGSRAUM ist, in Verbindung bringen. Denn das deutsche Wort ›Ton‹ leitet sich aus dem griechischen tónos ab, was soviel wie ›Anspannung‹ bedeutet, und dem lateinischen tonus, der ›Spannung einer Saite‹ entspricht. Nur wenn eine Saite angespannt ist, ist es möglich, auf ihr einen Ton zu produzieren. Es gibt auch den sogenannten Körpertonus, die Körperspannung, der unter Umständen mit einem menschlichen ›Grundton‹ im Zusammenhang steht.
Hören kann vor diesem Hintergrund als der permanente Vorgang des Empfangens von Spannungen (von Tönen) verstanden werden, der aus einem Spiel differentieller Wahrnehmungsvermögen hervorgeht, das affektive Energie generiert. Hierbei sind Vorgänge des Erinnerns, des Verarbeitens und Neuzusammensetzens von Sinneseindrücken involviert, die sich überlagern, unterbrechen und ineinander übergehen. Ein sehr spannendes und weitläufiges Thema...
Auch von Wagner wird der Ton als ein gespanntes, fast ›überspanntes‹ Medium begriffen, das nicht in sich selbst ruht, sondern expressiv nach außen drängt und auf andere, nichtmusikalische Medien übergreifen kann. Wie wohl kein anderer

Empfa
Die 02. Ausstellung im Jahresprogramm Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß (M.Claudius) des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

Vernissage
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