Doch die Makrosphäre der kollektiven Erkenntnis wuchert etwa seit der Mitte des 17. Jhd. expo- nentiell. Die Flut der Fachliteratur ist unüberschaubar, ebenso wie die unablässig neu begründeten Forschungsfelder. Und während die Zahl der aktiven Wissenschaftler zwischen 1850 und 1950 noch von 1. Mio auf 10 Mio. gestiegen ist, wuchs sie allein zwischen 1950 und 2000 von 10 Mio. auf 100 Mio. an (Marx und Gramm, 2002)

Bis zur Renaissance galt, dass es einem rundum gebildeten Menschen, einem sog. uomo universale, möglich sei, alles verfügbare Wissen der Menschheit zu überblicken. Heute ist es nur noch möglich als hochspezialisierter Wissenschaftler in einem winzigen Ausschnitt so gut orientiert zu sein, dass man dort weiteren Erkenntnisgewinn erzielen kann. Zudem gilt, ein halbes Jahrtausend nach der Renaissance, dass die neuen wissenschaftlichen Modelle der Wirklichkeit derart komplex sind, dass sie sich dem Verständnis des Menschen nahezu vollständig entziehen und nur noch über Umwege nachvollziehbar sind:
In der Mathematik wird mit Dutzenden von Dimensionen jenseits des euklidischen Raums operiert, die Astronomie bewegt sich in Zeiträumen und Größenverhältnissen, die man zwar benennen, aber sich unmöglich vorstellen kann, und in der Teilchenphysik werden unerklärliche Phänomene beobachtet, die Theorien zeitigen, in denen gemutmaßt wird, dass entweder die Zeit eigentlich nicht existent sei, sondern nur sekundär aus einem gequantelten Raum hervorgehe, oder umgekehrt der Raum emergent sei und erst aus der Zeit entstünde. Werner Heisenberg wiederum wird zugeschrieben, er hätte von der Quantenphysik gesagt, wer sich mit ihr beschäftigt hätte und nicht verrückt geworden sei, hätte sie nicht verstanden.

Derzeit befinden wir uns also an einem Punkt, an dem nicht nur unsere unmittelbare subjektive Erfahrung der Welt nach wie vor unbenennbar bleibt. Auch die abstrakten Weltbeschreibungen ziehen sich in das Unbenennbare zurück - und zwar soweit, dass vor einigen Jahren ein andauernder Dialog zwischen den Spezialisten der subjektiven und der empirischen Welter-fahrung begonnen hat, namentlich zwischen praktizierenden Buddhisten und theoretischen Phy- sikern. Gleichzeitig beziehen sich die Protagonisten der Quantenschleifengravitation
wieder auf die mystisch anmutenden Ideen der Vorsokratiker.

Zwar ist die Übereinstimmung von Mikro- und Makrokosmos nach klassischer Definition seit der Formulierung der Quantenphysik endgültig ad acta gelegt, da die Welt des Subatomaren nicht den Gesetzen der klassischen Physik folgt, die im räumlichen Makrokosmos hingegen ungebro- chen gelten, begreift man aber die Termini in dem oben skizzierten erkenntnisphänomeno- logischen Zusammenhang, so ist festzustellen, dass sich die beiden Extreme doch wieder ent- sprechen. Denn in den Beschreibungen, die zwei eigentlich entgegengesetzte Erkenntnispro-zesse, der individuelle und der kollektive, hervorgebracht
haben, können wir heute wieder die gleichen Grundzüge, die gleichen Weltentwürfe erkennen. Die Idee einer Einheit allen Seins, der Begriff der Ganzheitlichkeit, ist heute in der Wissenschaft präsenter und relevanter denn je, und

was den Alchimisten der Stein der Weisen war, ist den Wissenschaftlern von heute die alles vereinigende Weltformel.

Der Ort, an dem sich diese Synthese bildet, kann wiederum nur die mesokosmische Zone des Menschen sein, mit seinen beschränkten kognitiven Strukturen, seiner Unschärfe, seiner mangelnden Stringenz, seiner unlogischen Intuition, seinen unterbewussten Strömungen, seiner Poesie.
Nicht von ungefähr zeigt sich gerade in der Physik, dass es nicht immer nur die methodischen Vorgehensweisen sind, die die großen Entwicklungssprünge hervorbringen, sondern oftmals losgelöste Eingebungen, in denen sich Unbenanntes unabhängig von unserem intentionellen Verstand formiert. So beschrieb Werner Heisenberg den Moment, in dem ihm bei einem Nachtspaziergang auf Helgoland der Durchbruch zur Entwicklung der Quantenphysik gelang, als einen Zustand des „Sich-Treiben-Lassens“.
Die großen Entdeckungen Einsteins hatte er nicht einer erbarmungslosen und exakten Logik zu verdanken, sondern seiner enormen Fähigkeit des visualisierten Denkens. Die entsprechenden Berechnungen delegierte er anschließend an leistungsfähige Mathematiker.

Tatsächlich hat die Welt der Physik über erstaunliche Zeiträume mit rein spekulativen Modellen gelebt, die der Intuition und der Phantasie zu verdanken gewesen sind. Das Atom als kleinste Einheit der Materie war seit Leukipp und Demokrit hypothetischer Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Überlegungen, doch wurde seine faktische Existenz erst 1905 von Albert Einstein nachgewiesen. Die Idee eines schwarzen Loches wurde bereits 1783 vom Astronomen John Michell ersonnen und von Albert Einstein und Karl Schwarzschild 1915/16 anhand der allgemeinen Relativitätstheorie präzise ausformuliert. Ihre tatsächliche Existenz konnte allerdings erst in den Jahren 2016 und 2017 endgültig belegt werden, anhand der Messung von vorher ebenfalls nur hypothetischen Gravitationswellen und schließlich durch die bildgebenden Verfahren eines Radioteleskops.

Überspitzt könnte man daraus ableiten, ein guter Teil der Physik spiele sich in der Sphäre der Science Fiction ab: Es werden Modelle entworfen, mit denen sich die Wirklichkeit zwar beschreiben lässt, deren Validität aber erst noch bewiesen werden muss. Die Wissenschaft operiert also oft in einer hypothetischen Wirklichkeit, die lediglich möglich sein könnte, sich aber auch als falsch heraus stellen kann. Ganz zurecht wies deshalb der polnische Arzt, Philosoph und Science Fiction-Autor Stanislaw Lem der Science Fiction eine maßgebliche Bedeutung auf dem Feld der Futurologie zu: Theoretisch wären alle technischen Extrapolationen, die sich der Mensch ausdenken kann, so utopisch sie auch anmuteten, irgendwann tatsächlich  umsetzbar.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass wir heute von zahllosen Gegenständen umgeben sind, auf die wir einfach nur lange warten mussten, da wir sie aus den Visionen der Science Fiction

Der 07.Beitrag zum Jahresprogramm SPRIT  und SPIRIT des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2020
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