Und so wie das Helle und das Dunkle in Kali vereint sind, so sind diese beiden Antago-nismen auch in allem Irdischen anwesend und wirksam, wie es am deutlichsten in dem bereits genannten Denksystem des Taoismus mit seiner Yin und Yang-Dualität beschrieben wird.

Im westlichen mythologischen Komplex hingegen, der den Nahen Osten bis Persien einschließt, hat sich in der unvereinbaren Opposition von Gut und Böse die menschliche Welt zu einem profanen Tertium Quid herausgebildet. Sie ist nur noch das Schlachtfeld, auf dem sich Gut und Böse gegenüberstehen, wie wir es exemplarisch im Kampf zwischen Ahura Mazda und Ahriman in der zoroastristischen Mythologie sehen, die sich in der Opposition von Gott und Teufel in der Bibel wiederfindet.


I
m selben Schritt hat sich aber auch eine Trennung zwischen dem göttlichen Schöpfer und seiner Schöpfung vollzogen. Die schöpfende, hervorbringende Kraft, die erste Ursache, ist der Welt nicht mehr inhärent, wie in den östlichen Vorstellungen, sondern ist von ihr getrennt. Ursache und Wirkung sind voneinander geschieden, wie auch die schöpfende Einheit und die geschaffene Vielheit unvereinbar geworden sind. Demzufolge ist das Göttliche in der Regel auch nicht durch unmittelbare profane Welterfahrung zu erkennen, wie in den östlichen Religionen, sondern durch das Befolgen der heiligen Gesetze, die der heroische, patriarchalische Gott den Menschen gegeben hat.
Diese Vorstellung von dem Einen und dem Anderen ist vielleicht der zentralste Wesenszug der westlichen Denktradition. Er hat mathematisch seinen essentiellsten Ausdruck in dem Entweder-Oder der Boole´schen Algebra gefunden, psychologisch und philosophisch in der Opposition von Subjekt und Objekt, von Geist und Welt.


Genau mit dieser Opposition und ihrer Überwindung beschäftigt sich Klaus Becker auf vielgestaltige Weise in seinem Werk, vor allem aber mit seinen Polyedern.
Sie entstehen, ausgehend von einem Würfel, durch eine schrittweise tangentiale Annäherung an die Inkugel, also einen gedachten Körper mit unendlich vielen Symmetrieachsen, die sich alle in dessen Mittelpunkt schneiden. Die Inkugel berührt jeweils den Mittelpunkt jeder Würfelfläche. Um zu einem nächsten Polyeder zu gelangen, der sich der Inkugel einen Schritt weiter nähert, werden die Ecken des Würfels so abgeschnitten, daß die neu entstandenen Flächen, die rechtwinklig zur Symmetrieachse stehen, die gedachte Inkugel wiederum in ihrem Mittelpunkt schneiden.

Stellt man das Zustandekommen der einzelnen Schnitte mit ihren Bezugslinien zweidimensional dar, entsteht ein komplexes Muster, das an Fahrradspeichen oder ein Mandala denken läßt, und das unmißverständlich verdeutlicht: die äußere Form ist abhängig von dem gedachten Konzept des Inneren, von dem Mittelpunkt und seinen Symmetrieachsen. Die gegenüberliegenden Pole, an denen die Symmetrieachsen aus dem Körper austreten, und von denen es auf einer Kugel mathematisch betrachtet unendlich viel geben kann, werden, obwohl in Opposition befindlich, durch denselben Mittelpunkt definiert. Die Vielheit geht aus der Einheit hervor und die Einheit, der Mittelpunkt, wird wiederum durch die Vielheit konstituiert. Einheit und Vielheit bedingen einander.

Dem Spannungsfeld zwischen Vielheit und Einheit geht Klaus Becker auch in dem geistigen Erkenntnisprozess nach. Denn so, wie wir die Inkugel in das Polygon aus Stein hineindenken und aus einem Punkt die zahlreichen Flächen ableiten, so sind wir angesichts der uferlosen Vielgestalt der Welt unablässig bestrebt, vereinheitlichende Kategorien zu bilden, die wir der Vielzahl der Erscheinungen zugrunde legen.
Diese Denkoperation brachte das Weltmodell Platons mit seinen verursachenden Urbildern hervor, und ist genauso in unseren Modellen von Genetik und Evolution  allgegenwärtig. Wir wissen, daß wir alle aus einer einzigen Zelle hervorgegangen sind, die ihrerseits durch Zellteilung die ehrfurchtgebietende Vielzahl unterschiedlicher Körperzellen hervorgebracht hat, so wie auch für die Menschen gerne das Erbe einer einzigen prähistorischen Mutter postuliert wird, in der sich die entscheidende genetische Mutation ereignet hat, aus der schließlich alle Hominiden hervorgegangen sein sollen.


Dieser Prozess wiederholt sich in unserer kognitiven Annäherung an die Welt. Wir sehen Vielheit, bilden aber daraus Einheiten. Wenn wir einen Baum sehen, wissen wir, es gibt keinen zweiten Baum, der diesem einen gleicht. Jedes Wachstum bringt eine einzigartige Form hervor, dennoch ordnen wir das individuelle Gewächs der vereinheitlichenden Kategorie „Baum“ zu, ganz gleich, ob es eine Bonsai-Kiefer oder eine gewaltige Rotbuche ist.

Unser Bewußtsein oszilliert also zwischen der Vielheit und der Einheit. Durch Deduktion gelangen wir von der vereinheitlichten Idee zu der vielgestaltigen Wirklichkeit der Einzelfälle und leiten aus ihrer Diversität durch Induktion wiederum die vereinheitlichende Idee ab.

Die 02. Ausstellung zum Jahresprogramm SPRIT  und SPIRIT des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2020
Präsentation
Vernissage
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