Folgerichtig geriet der Vanitas-Gedanke zusehends in Vergessenheit. Die fortschreitende Erosion der Religiosität in den industriellen und postindustriellen Gesellschaften erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jhd., in der die Lektion aus 2 Weltkriegen und der Naziherrschaft das Weiterbestehen eines Glaubens an höhere Mächte, die der Menschheit wohlgesonnen waren, für zahllose Menschen unmöglich machte.

Doch wie soll der Mensch mit dem Tod umgehen, wenn ihm die einzige Möglichkeit, sich eines Nachlebens zu versichern, zerstört worden ist? Wenn die Rituale bedeutungslos geworden sind? Wenn das memento mori nicht mehr nur eine Mahnung ist, um sein Leben tugendhaft zu führen, um schließlich ein Nachleben im Paradies führen zu können, sondern wenn es schonungslos die ganze Absurdität überkommener Sinngebung vor Augen führt und das Leben als eine erbarmungslose Einbahnstraße zur Auslöschung erscheinen läßt?

Aus der Psychoanalyse sind uns die zwangsläufigen Schutzmechanismen hinlänglich bekannt: Abspaltung und Verdrängung.
Diese menschliche Eigenschaft war schon Blaise Pascal überdeutlich bewußt, der in seinen Pensées notierte: "Wir rennen unbekümmert in den Abgrund, nachdem wir irgendetwas vor uns hingestellt haben, das uns hindern soll, ihn zu sehen."

Dieses beliebige „Irgendetwas“, das wir vor uns hinstellen, an das wir uns versuchen zu klammern, das, was uns glauben machen soll, unsere irdische Existenz wäre unbegrenzt, ist eben jener Erdenrest, der sich weigert, sich der eigenen Sterblichkeit bewußt zu werden, die in einer Welt ohne den Trost der Religionen, nahezu unmöglich zu ertragen ist.

So sind unsere Anstrengungen, die Hilflosigkeit angesichts des Todes abzuspalten und zu verdrängen, im Laufe des 20. und frühen 21. Jahrhunderts immer verzweifelter und effizienter geworden. Doch da wir dem Leben nur im Bewußtsein seiner Begrenztheit und Endlichkeit einen wirklichen Wert und eine Bedeutung beimessen können, liegt es nahe, dass wir sogar beginnen, die Lebendigkeit selbst zu verdrängen und Stimuli zu suchen, die leer und sinnlos sind.

In seinem Buch Der Verrat am Selbst legt der Psychoanalytiker Arno Grün klar dar, wie die Stimulierung durch bedeutungslose Reize auf die Psyche wirkt: da sie unsere Lebendigkeit nicht berührt und deshalb kein kreatives Handeln in uns anregt, verlangen wir nach immer mehr Stimuli, bis schließlich nicht einmal mehr die jeweiligen äußeren Reize ausreichen, um uns abzulenken, sondern wir eine Sucht nach dem bloßen Wechsel der Reize entwickeln.
Und so geraten wir in eine Raserei der Zerstreuung und gieren nach der unablässigen Betäubung durch immer mehr Tweets, Facebook- und Instagram-Posts, Kurznachrichten im Fahrgast-fernsehen, Info-Banner, die während laufender Fernsehsendungen eingespielt werden, sinnlose Statistiken und Schlagzeilen auf LED-Wänden am Straßenrand, durch permanente Berieselung mit Musik oder dem hohlen Geplapper von Radiosprechern, und verlieren uns in der Nichtigkeit des gesellschaftlichen Lebens, dem Small-Talk, dem Event, der Jagd nach dem Zeitgeist.

Gleichzeitig glauben wir unablässig tätig sein zu müssen im Dienste der Arbeit, der Selbstoptimierung oder der Selbstdarstellung und löschen durch einen panischen Zwang zum „Multi-Tasking“ allen möglichen, gedanklichen Leerlauf aus unserem Leben, der uns in die Abgründe einer essentiellen Auseinandersetzung mit uns selbst und dem Tod führen könnte.

Und so marschieren wir bewusstlos am Leben vorbei und auf den unabwendbaren, aber verhüllten Tod zu. In dem Roman Die Schöne des Herrn, auf den sich Adriane Steckhan ebenfalls bezieht, beschreibt Albert Cohen die so durch das Leben schlafwandelnden Menschen immer wieder als „lebende Leichname“, als bloße Hüllen und Masken, deren Lebendigkeit schon lange abgestorben ist, in einem absurden Theater der Eitelkeiten.


Mit dieser komplexen, schweren Materie setzt sich Adriane Steckhan seit einigen Jahren und in zunehmendem Maße auseinander.

Ein wichtiger Impuls waren wiederholte Besuche in den Pariser Katakomben, einer unterirdischen Lagerstätte für Gebeine von Friedhöfen, die ab 1785 geräumt wurden, um im wachsenden Paris neuen Wohnraum zu schaffen. Insgesamt lagern dort die Überreste von etwa 6 Millionen Toten, sorgsam aufgeschichtet zu Knochenwänden und Ornamenten entlang der Gänge der ehemaligen Steinbrüche von Montrouge im 14. Arrodissement.

Im großen Kellerraum des EINSTELLUNGSRAUM sehen wir eine Acrylpolymerhaut, die eines der dort entstandenen Motive zeigt. Doch statt der einzelnen Knochen und Schädel tritt uns etwas Verschwommenes, Unscharfes entgegen. Die Überwältigung durch die schiere Masse der entindividualisierten Toten findet ihren Ausdruck in einer Auflösung; die Gesamtheit des Todes wird zu einer Landschaft, die selbst den Eindruck der Erosion erweckt, der Vergänglichkeit, der Körperlosigkeit.

In der Oberflächengestaltung können wir einen Aspekt, der für alle Acrylpolymer-Arbeiten Adriane Steckhans gilt, besonders gut beobachten:

Die 4. Ausstellung zum Jahresprogramm (Keine) Wendemöglichkeit 2018 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

Präsentation
Vernissage
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