gesagt werden kann und was nicht, welche Geschichten erzählt werden dürfen und welche nicht, so wie Raster eine Ordnung schaffen, eine räumliche, und die Anordnung von Dingen ermöglichen, indem sie sie einschränken.

So wie Sie, wenn Sie überhaupt irgendetwas sehen wollen, so wie Sie mich sehen, unterscheiden müssen, von dem Hintergrund, vor dem ich stehe und von allem anderen, auch von sich selbst. Sie müssen nach Unterscheidungen suchen, um überhaupt irgendetwas erkennen zu können. Sie sind kein Objekt, sagen Sie. Sie sind ein Subjekt. Und doch erkennen Sie sich selbst nur, in dem sich von allem anderen unterscheiden. Jede Identifizierung, (das bin ich!) braucht eine Verneinung (das bin ich nicht!). Sie bilden Ihre Identität, indem Sie undurchlässige Schalen bilden, um sich herum, so wie eine Auster den Fremdkörper, der sich in sie hineinzwängt, mit Perlmutt umhüllt, Schicht für Schicht, und ihn zur Perle macht, so bilden Sie Schalen um sich herum, damit Sie sich nicht vermischen,
vermengen mit dem Hintergrund, oder den unscharfen Rändern der Dinge, Schatten von Dingen, Ihr eigener Schatten, der Schatten Ihres Nachbarn… vielleicht haben Sie sich getäuscht, … aber nein, hören Sie auf, denken Sie. Ich bin nicht Sie! Sie sind nicht ich. Warum sind Sie sich da so sicher? Ein Pfennig für Ihre Gedanken, wie eine englische Redensart besagt, oder auch eine Perle.


Immerhin haben Sie eine ganze Tradition auf Ihrer Seite, wenn Sie behaupten, daß jede Identifizierung (das bin ich!) eine Unterscheidung impliziert (alles andere bin ich nicht). Denn wenn etwas überhaupt ist, dann ist es mit sich identisch, woraus folgt, daß es von allem anderen verschieden ist. Das ist ein logisches Gesetz, das Gesetz der Identität. Noch ein Rahmen, ein Raster. Die Kraft, wenn nicht gar Gewalt der Identität.


So ist die Position, daß der Rahmen zuerst da ist, der Hintergrund zuerst da ist, bevor überhaupt etwas gefragt werden kann, bevor überhaupt eine Figur erkennbar wird, die Position derjenigen, die den Rahmen schaffen, oder ihn zumindest aufrechterhalten, und damit das Sagen haben: Es ist die Perspektive der Macht oder besser, der Mächtigen. Damit entpuppt sich die Frage nach der Priorität am Ende auch als eine politische. Denn wer behauptet, daß dieser Rahmen, diese Ordnung, in der sich die anderen bewegen, von Gott oder der Natur gegeben ist, der hat vor allem Angst, um seine Macht. Die Unveränderbarkeit der Ordnung und die Priorität des Rahmens behaupten am lautesten die, die das Sagen haben, aus Angst, die Ordnung könnte aus den Fugen geraten, … out of alignment.
Meine Hoffnung ist, daß Sie am Ende dieser Rede, wenn ich aufgehört haben werde zu Ihnen zu sprechen, in nächster Zukunft, also etwa in 20 Minuten, etwas gesehen haben werden, was Sie jetzt vielleicht noch nicht sehen, obwohl ich vor Ihnen stehe, und zwar nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit, diese Priorität in Frage zu stellen, die Priorität des Hintergrunds vor der Figur, des Rahmens vor der Frage.

Genau dies tut ANna Tautfest. In ihren Arbeiten dreht sie das Verhältnis von Figur und Hintergrund um, indem der Hintergrund, in Form eines Rasters, selbst zum Gegenstand des Verformens und Dehnens durch die Figur wird, die sich von hinten, von der Rückseite, der dem Blick des Betrachters abgekehrten Seite des Bildes, in die Fläche drängt und seinerseits das Raster, das doch für Ordnung innerhalb des Bildes sorgen soll, verformt, zerdehnt und schließlich – partiell zumindest – sprengt.
Allen Arbeiten gemein ist eine ästhetische Qualität: das formale oder abstrakte Verhältnis von Rahmen und Fragen, Figur und Grund wird in verschiedenen Formen und Medien – Bild- Film- Objekt – in konkreter und anschaulicher Weise instantiiert und somit unmittelbar wahrnehmbar gemacht.
Dies ist meines Erachtens ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, die hier weniger sichtbar ist, aber nichtsdestoweniger das Fundament bildet, das
theoretische, auf dem diese Arbeiten ihre materielle Gestalt erst gewonnen haben: Diese Tatsache ist ein Gedanke; ein Gedanke ist ein abstrakter Gegenstand, der aber dennoch existiert, wenn auch nicht in Raum und Zeit, die nach Kant bloß die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind (der Anschauung, wie er sagt). Es ist der Gedanke, daß das Verhältnis der Priorität von Hintergrund und Figur nicht nur in Frage gestellt, sondern möglicherweise auch neu gedacht werden kann, und zwar als ein Verhältnis der gegenseitigen Wechselwirkung: Interdependenz statt Priorität. Dieser Gedanke, wenn er erst einmal artikuliert und als eine Behauptung aufgestellt wird, im Raum, im Raster, hat Folgen.


Die Folgen dieser Neubestimmung sind praktischer Natur. Hier kommt das Futur II ins Spiel, das ich vorhin gebraucht habe, um meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß Sie am Ende dieser Rede etwas gesehen haben werden. Warum aber der Gebrauch des Futur II, das sprachlich so sperrig und altmodisch scheint wie ein Reifrock für Damen? Und was hat das Futur II mit dem Aufbrechen von Rastern durch Figuren zu tun? Was Sie hier nicht sehen können, was aber das textliche Gegenstück bildet zu den Arbeiten, die Sie hier im EINSTELLUNGSRAUM sehen können, ist ANna Tautfest schriftliche Arbeit.
Die 03. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
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