später unauffindbar; und manche Dinge, die zu vergegenwärtigen zu schmerzhaft sind, verdrängen wir, sodass sie tatsächlich aus unserem Gedächtnis gelöscht zu sein scheinen, meist so gründlich, dass wir nicht einmal mehr eine Leerstelle spüren.

Experimente mit Hypnose haben allerdings gezeigt, dass diese unauffindbaren, vergessenen und abgespaltenen Erinnerungen z.B. über sogenannte „Affektbrücken“ durchaus noch zugänglich sind. (1) Die Psychoanalyse wiederum hat uns gelehrt, daß die abgespaltenen Ereignisse, obwohl wir nichts mehr von ihnen wissen oder wissen wollen, einen massiven Einfluß auf unser Leben und Handeln haben. Denn sie sind nicht verloren, sie sind nur in einen anderen Zustand übergegangen und wirken nun maskiert und indirekt auf uns ein.

Was für die subjektiven Erinnerungen gilt, gilt genauso für das kollektive Gedächtnis. Gerade im letzten Jahrzehnt wurde die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf das kollektive Trauma des 2. Weltkriegs und des Nazi-Regimes gelenkt, das nicht nur die heimsucht, die von den historischen Ereignissen betroffen gewesen sind, sondern auch deren Kinder und Enkel, ungeachtet dessen, ob sie von den auslösenden Ereignissen wissen oder nicht.
So wie der Einzelne Vermeidungsstrategien zum Selbstschutz entwickelt, so tun es auch ganze Gesellschaften, um nicht die auf ihr lastende Schuld und die erlittenen Verletzungen spüren zu müssen. Doch da die daraus entstandenen Handlungsroutinen und gesellschaftlichen Normen um einen Schmerz herum gewachsen sind, wird auch die Form des Schmerzes weitergegeben, sobald die Routinen und Normen tradiert werden. Auf diesem Umweg können auch Kinder unter seelischen Beschädigungen leiden, deren Ursachen in der Generation ihrer Großeltern verborgen liegen (2).
Aber kehren wir noch einmal zurück zu unserer alltäglichen, oberflächlichen Vergesslichkeit: Daß wir sie alle als ein Faktum unseres Seins akzeptiert haben, zeigt sich in unserer Gewohnheit, Erinnerungen an materiellen Dingen zu verankern. Das kann ganz profan geschehen mit einem Kalender oder einem Knoten im Taschentuch, der uns an einen Termin erinnern soll; oder sinnlich-poetisch in Form der Haarlocke eines geliebten Menschen, einer Muschel vom Strand, der Uhr eines verstorbenen Angehörigen. Natürlich gehören auch Urlaubsandenken dazu, genauso wie die irgendwann leerstehenden Kinderzimmer, die von manchen Eltern nur zögerlich einer neuen Funktion zugeführt werden. Wir umgeben uns also bewusst mit einem Archiv von Dingen, um Erinnerungen und Gefühle am Leben zu erhalten.

Zunächst mag es so scheinen, als würden die Dinge Erinnerungen für uns speichern. Doch natürlich können die einzelnen Dinge lediglich Erinnerungsereignisse auslösen. Denn die Erinnerungen, auch wenn sie eine Weile verschüttet sein mögen, sind immer und ausschließlich in unserem Geist verwahrt.
Doch mit Hilfe solcher materieller Gedächtnisstützen können wir nicht nur Erinnerungen wieder beleben, vor dem Versinken bewahren oder sie sogar aus dem Orkus der Verdrängung emporziehen, sie ermöglichen uns ebenfalls, einzelne Erinnerungen aus dem großen Strom zu lösen und mit ihnen umzugehen. Sie ermöglichen es uns auch, zuvor disparate Erinnerungen zusammenbringen und mit ihnen zu spielen, in dem wir die Bedeutungsträger anderen Kontexten aussetzen.

Walter Benjamin schrieb einmal: „Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt.“ (3)  Und Machado de Assis ließ eine seiner Figuren in den Posthumen Erinnerungen des Bras Cubas über ihr Scheitern in der Kunst sagen: „...niemand wird mir echte Empfindungen absprechen können. Es ist aber auch möglich, daß gerade meine Gefühle wirklicher Vollendung im Wege standen…“ (4)
1) Dirk Revensdorf, Fördert Hypnose verschüttete Erinnerungen zu Tage?, in: Spektrum der Wissenschaft: Geist und Gehirn, 12, 2017
2) Bettina Alberti, Seelische Trümmer, Kösel, München 2010
3) Walter Benjamin, Traumkitsch (1927), in Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Schweppenhäuser, Frankfurt a. M., 1991
4) Joaquin Maria Machado de Assis, Postume Erinnerungen des Bras Cubas, Rütten & Loening, Berlin 1967

Die 7. Ausstellung im Jahresprogramm SEELENKLIMA 2021 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation        
Vernissage
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