Ebensowenig will der ökonomisch bewußte Endverbraucher, daß zur Arbeit gezwungene Kinder in Bangladesh durch giftige Textilbehandlungsmittel vergiftet werden. Er möchte lediglich für seine Jeans nicht mehr als 20,- € zahlen.
Trotzdem führen die Handlungen dieser Individuen unter anderem zu genau diesen unerwünschten Folgen. Die Konsequenzen des individuellen Handelns sind durch die weltweit vernetzte Wirtschaft so weitreichend und dadurch so verschleiert, daß sie, selbst wenn man sich der Aufgabe mit Beharrlichkeit und aufwendiger Recherche
widmet, kaum noch abzuschätzen und zu verfolgen sind.

Die kulturelle Struktur, der Status Quo unserer Gesellschaft, entpuppt sich nach Giddens also als ein Kollateralschaden unreflektierter Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Begierden. Der Mensch bezweckt nichts Böses, er hat lediglich und zuallererst sein persönliches Wohlergehen und seine Bequemlichkeit vor Augen.
 Der Autofahrer will lediglich seine individuelle und gemütliche Privatsphäre soweit ausdehnen wie möglich. Er will nicht auf dem Fahrrad oder dem Fußweg frieren oder vom Regen durchnäßt werden, er möchte zum Klang seiner Lieblings-CD auf dem Weg zur Arbeit alleine zu sich kommen und sich nicht mit Hunderten von anderen mürrischen Frühaufstehern um halb acht Uhr morgens in Bus und Bahn drängeln, er möchte sich nicht mit schweren Einkaufstaschen abmühen.

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Genausowenig möchte er aber die infrastrukturelle Zerstörung der Innenstädte durch die zunehmende Trennung von Arbeit, Konsum und Wohnen, die er durch seine individuelle Automobilisierung herbei-führt; er möchte keine Umweltverschmutzung durch CO2 und Feinstaub, er möchte keine Lawinen aus Blech, die die Innenstädte verstopfen, er möchte auch keine Wüsten aus Beton für den ruhenden Verkehr. Er möchte lediglich seine Bequemlichkeit. Doch genau diese unerwünschten Auswirkungen hat sein automobiler Lebensstil.
Und an diesem Punkt kehren wir wieder zurück in die Welt des Vagari. Denn Vagari ist kein Ausgestoßener, kein Ahasver, den seine Sünden zu der ewigen Wanderung durch die Zeit verdammt haben.
Vagari hat sich ganz bewußt von der Menschheit und vor allem von ihrer betäubenden Bequemlichkeit abgekehrt. Seine Einsamkeit ist das Ergebnis einer bewußten, freiwilligen Abkehr von der instinktlos und unbewußt handelnden Masse.

Er kehrt zurück in einen Nomadenzustand, in dem die Menschheit Jahrhunderttausende verbracht hat, bevor sie sich durch Ackerbau und Seßhaftigkeit selbst domestiziert hat.
Dadurch kehrt er auch zurück zu einer konsequenten Unmittelbarkeit des Handelns, mit der er versucht, die Entfremdung von Mensch und Natur zu überwinden: Alle Gegenstände, die die Figur des Vagari am Leib trägt sind selbst gefertigt - von den Schuhen über den Rucksack bis hin zu den Knöpfen am Mantel, die aus dem Holz eines Kirschbaums aus dem elterlichen Garten des Künstlers geschnitzt wurden. Die Materialien aller Gegenstände stammen aus natürlichen und dem Künstler bekannten Quellen und sind durch seine eigenen Hände gegangen.

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Zwischen dem Menschen und der Natur entsteht so eine Schnittmenge, ein weiches Übergangsfeld: Wenn Vagari die Natur aufsucht, geht er nicht gerüstet mit einem High-Tech-Kokon in eine romantisierte Umwelt, die es heroisch zu bezwingen gilt, und die, sobald sie in diesen Kokon eindringt, z.B. in sein mit Polyurethan beschichtetes Nylonzelt, von „schöner Natur“ zu „Schmutz“ umgewertet wird; vielmehr wird die Natur an der Schnittstelle zum Menschen transformiert zu etwas, das ihm ermöglicht, in ihr zu leben.
Durch diese Rückkehr zur Unmittelbarkeit hat Vagari wieder die
Kontrolle über die Konsequenzen seines Handelns erlangt.
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Und nun kehrt dieser einsame, unbehauste Nomade zurück an die Ränder dessen, was wir unsere westliche Kultur nennen und läßt uns einen Blick darauf werfen, was unser Tun und unser Wunsch nach Bequemlichkeit für ungewollte Konsequenzen haben.

Mit diesem Blickwinkel, den er stellvertretend für uns öffnet, stellt er die Frage, ob wir uns der Konsequenz unseres Tuns bewußt sind und ob wir bereit sind, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Ⓒ Dr. phil Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Dezember 2014



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Die 10. Ausstellung im Jahresprogramm Park&Ride des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Einführung: Dr. Thomas J.Piesbergen
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek