Schopenhauer kennen, über Nietzsches Idee des weltbejahenden Kindes, bis zur Existentialphilosophie und der Phänomenologie, die sich ausdrücklich der Welt und den darin sich ereignenden Prozessen zuwenden.

In der Physik wurde vor allem vom Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin „Der Abschied von der Weltformel“ ausgerufen, und der Blick auf die Prozesse der Emergenz und das Problem der Komplexität gelenkt, denn ohne ein Verständnis dieser Zusammenhänge sei selbst die Kenntnis der Weltformel bedeutungslos6.
Auch Lee Smolin, neben Rovelli ein Mitschöpfer der Quantenschleifengravitation, regte an, der Zeit genau die Bedeutung zurück zu geben, die sie in unserer menschlichen Welterfahrung hat, nämlich die der einzig tatsächlichen Konstante der Wirklichkeit. Damit wiederum wäre das Individuum vor der Sinnlosigkeit eines zeitlosen Universums gerettet und dem menschlichen Handeln seine Bedeutung in einem Ursache-Wirkungs-Gefüge zurück gegeben7.

Diese dem Dualismus entgegengesetzten Ansätze zeichnen sich alle dadurch aus, daß sie die großen Antworten nicht jenseits der erfahrbaren Wirklichkeit suchen, wie die Konzepte platonischer Prägung, sondern innerhalb unseres Erfahrungskontinuums, so wie auch alle mythischen und religiösen Systeme vor dem Einbruch des Dualismus das Göttliche als der Welt inhärent begriffen haben.

Auch Sabine Mohr setzt sich seit langer Zeit mit dem Problem der Erkenntnisfähigkeit des Menschen angesichts der modernen Physik auseinander und fand dabei auch immer wieder zu der Höhle Platons zurück.
Doch ließ das Gleichnis, das durchaus eine Reihe von Inkonsistenzen aufweist, immer viele Fragen zurück, angefangen von der, ob nicht die in der Höhle Gefangenen, wenn man ihnen Schatten der idealen platonischen Körper gezeigt hätte, dazu in der Lage gewesen wären, deren wirkliche Gestalt sowie die Beschaffenheit der Lichtquelle aus dem Gesehenen abzuleiten.


Bereits in diesem Gedankenspiel wird das Merkmal absoluter Wirklichkeit nicht mehr, wie bei Platon und seinen Nachfolgern, nur dem Licht bzw. der Welt außerhalb der Höhle zugeschrieben.

Vielmehr wird, um aus den Schatten auf die Gestalt der Körper zurück schließen zu können, der Prozess ihrer Entstehung relevant, und mit dem Blick auf den Prozess auch alle daran beteiligten Aspekte: das Licht, die schattenwerfenden Objekt, die Höhle, auf deren Wand sich die Schatten abzeichnen, und schließlich sogar die Betrachter und ihr Erkenntnishorizont. Sie alle sind auf einmal Teil einer anderen Idee absoluter Wirklichkeit, da sie alle Teil des Prozesses sind, in dem  sich diese Wirklichkeit manifestiert. Hier öffnet sich das Reich der Komplexität und Emergenz.

In Sabine Mohrs aktueller Ausstellung im EINSTELLUNGSRAUM nimmt ein Vorhang den Platz der platonischen Höhlenwand ein, auf der die Illusion der Wirklichkeit inszeniert wird. Doch schon die Projektionsfläche selbst ist merklich in einen größeren Kontext eingebunden, in dem ihre Position mit den innenarchitektonischen Elementen des Galerieraums korrespondiert.
Die Schatten, die sich über sie hinweg bewegen, stammen von Modellen der platonischen Körper, die in einer steten Rotation anwachsen, sich wieder zurückziehen und einander durchdringen. Folgt man Platons Bild von dem angeketteten Betrachter, der dieses Schauspiel als die Wirklichkeit hinnimmt, und versucht man sich auf dieser Ebene der Wahrnehmung zu halten, also sich bloß an der Projektion zu erfreuen, fällt jedoch sofort eine weitere Irritation ins Auge: In ihrer Bewegung berühren die Körper den Vorhang und setzen ihn ebenfalls in Bewegung. Die Illusion der Wirklichkeit auf der Oberfläche, das körperlose Schattenspiel, wird durch den Eintritt der realen Körperlichkeit der schattenwerfenden Objekte zerstört.

Ein Blick hinter den Vorhang, der sich auf einem Gang durch den Galerieraum zwangsläufig ergibt, zeigt schließlich die ganze Versuchsanordnung. Doch indem der Prozess sichtbar gemacht wird, wird keineswegs die faktische Wirklichkeit oder die sinnliche Qualität des Phänomens, das sich auf der Vorderseite des Vorhangs abspielt, in Frage gestellt. Denn selbst die detaillierte Kenntnis des Prozesses kann niemals die sinnliche Erfahrung der Erscheinung vermitteln, geschweige denn sie ersetzen, so wie man die sinnlich zugängliche Welt in all ihren ungezählten Erscheinungsformen nicht aus einer Weltformel ableiten könnte. 
Doch im Umkehrschluss wird eben so deutlich, hinter der Welt der Erscheinungen stehen Prozesse, die einer anderen Logik unterworfen sind, als der von uns konstruierten Logik der Schatten auf dem Vorhang, einer Schein-Logik, die der Logik der Narrationen im Kino entspricht:
6 Robert B. Laughlin: Abschied von der Weltformel. Die Neuerfindung der Physik. Piper, München 2007
7 Lee Smolin: Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos. DVA, München 2014


Der 03. Beitrag zum Jahresprogramm SEELENKLIMA des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2021
Präsentation     

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