Ein Werkstoff, auf den Monika Schröder immer wieder zurückgreift, da er auch im Zusammenhang des Heilens eine große Rolle spielt, ist der Gips. Während sie ihn bei ihren sog. „Taktilos“ tatsächlich noch benutzte, um gebrochene Hölzer wieder zusammenzufügen, bleibt dieser Aspekt in ihrer neuen Werkserie, den „Rotationen“, als subtile Konnotation bestehen.

Aus feinen Drahtnetzen, kleinen Streifen von Gipsbinden und zarten Latexmembranen hat sie filigrane, durchlässige, fast schwerelose Objekte geschaffen, deren Formen mitunter stark an Wimperntierchen erinnern, an Eukaryoten, deren Oberfläche mit einer Vielzahl von Flimmerhärchen bedeckt ist. Manche von ihnen schweben im Raum, wodurch die Anmutung von Plankton verstärkt wird. Doch im Gegensatz zu den Mikroorganismen, deren Körper um ihren Verdauungsapparat aufgebaut ist, sind die Objekte von Monika Schröder körperlos. Sie sind reduziert auf das Drahtgespinnst ihrer Außenhülle mit den hautartigen Latexpartien und den Cilien aus Gipsbinden, die vorsichtig in die Umgebung ausgreifen, als wollten sie sie abtasten. Sie stehen für eine Schnittstelle mit der Außenwelt, eine behutsame, physische Kontaktaufnahme, und wecken in uns das Gefühl für den Prozess des sich Einfühlens, des Betastens und Erfahrens der Umwelt. Dergestalt drängen sie sich als Metapher sinnlicher und empathischer Wahrnehmung auf.

Gleichzeitig vermitteln sie den Eindruck großer Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit, manche scheinen auch schon von Auflösungserscheinungen gezeichnet zu sein. Tatsächlich wirkt die globale Erwärmung, zumal die Erwärmung der Ozeane, die wir hervorrufen, indem wir fossilen Kohlenstoff freisetzen, zuerst auf die Mikroorganismen, die entweder durch den entstehenden Sauerstoffmangel absterben, oder als von Cyaniobakterien ausgelöste Algenpest, die alle anderen höheren Organismen bedroht.


Die Vernichtung der vermeintlich schwächsten Kreaturen wird auch von einer weiteren bewussten Materialwahl aufgegriffen: Monika Schröder verwendet neben Gips  und Drahtnetzen mit Wabenstruktur bevorzugt Bienenwachs und thematisiert damit das für uns sichtbarere und in seinen Konsequenzen konkretere anthropogene Sterben der Bienen und Insekten.

Eine weiteres Objekt, zu sehen im Keller des EINSTELLUNGSRAUM, erinnert stark an das hohle Kalkskelett einer Koralle. Gleichzeitig hat es auch die Anmutung eines gebeugten, menschlichen Torsos. Seine schneeweiße, durchbrochene Oberfläche ist gespickt mit den Enden schwarzer Kabelbinder aus Plastik, die sowohl als Stacheln, wie auch als Tasthärchen gelesen werden können. Darauf wird in Intervallen ein loderndes Feuer projiziert.


Hier prallen die antagonistischen Kräfte am plastischsten aufeinander und ihre gegenseitige Abhängigkeit wird am deutlichsten: Es durchdringen sich die Korallen, die noch heute gewaltige
Mengen an Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden könnten, mit dem gebeugten, menschlichen Körper und der unbändigen Kraft des Feuers, die für uns Segen und Fluch in einem ist. Die Borsten aus Plastik, selbst ein Produkt der Petrochemie, vereinen die ambivalenten Anmutungen von Tasthaaren oder drohend aufgerichteten Stacheln, von Kontaktaufnahme und Aggression. Der Wechsel von den Phasen, in denen das Objekt rot-orange flackert, zu denen, die seine blendend weiße Oberfläche entblößen, ruft Assoziationen mit der Algenbleiche hervor, die derzeit weltweit Korallenriffe bedroht und ebenfalls menschlichen Einwirkungen anzulasten ist.

Und dann sind da ein weiteresmal die Borsten oder Härchen, die sowohl an Abwehr denken lassen, wie an tastende Fühler oder Antennen, die in die Welt hinaus gesreckt sind.

Setzt man diese komplexen Zusammenhänge von Form, Material und projizierter Bildebene in den Kontext des Jahresthemas SPRIT + SPIRIT, ließe sich der ausgestellte Werkkomplex auf folgende Weise lesen:
dass unser Antrieb zum Handeln sich nicht darauf beschränkten sollte, sich der von uns in Gang gesetzten Dynamik der fossilen Energiewirtschaft unterzuordnen, die sich als überkommener Irrweg der Evolution erwiesen hat, als Enantiodromie, also als ein Aspekt, der vorübergehend einen Vorteil geboten hat, sich aber schließlich in sein Gegenteil umkehrt.

Vielmehr sollte der SPRIT unserer Kultur die Dynamik unserer Erkenntnisprozesse sein, so wie es der Evolution organischen Lebens schon immer zu Eigen gewesen ist.
Unser SPIRIT unser empathisches Bewußtsein, dessen Grenzen sich immer mehr öffnen, darf sich dem nächsten Entwicklungsschritt, einem globalen Bewußtsein und einer daraus resultierenden globalen Verantwortung nicht verschließen, denn nur dieses Bewusstsein wird es uns ermöglichen, uns auch weiterhin dem Zustand der Homöostase anzunähern, der nur erreicht werden kann, wenn wir ihn nicht auf unsere Spezies beschränken, sondern ihn für alles Leben auf diesem Planeten als relevant erachten; wenn unsere Empathie nicht nur Freunden, Verwandten, Gesinnungsgenossen oder Landsleuten gilt, sondern jedem Lebewesen der 8,7 Millionen Spezies, bis hin zum Plankton in den Weltmeeren, dem wir dadurch hoffentlich noch die Chance geben, uns ein zweitesmal Bedingungen zum Überleben zu schaffen.
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Hinweise zur inhaltlichen Vertiefung:
www.oekosystem-erde.de/html/geschichte_erdoel.html
• Stefanie Groll et.al., Kohleatlas, Heinrich Böll Stiftung, 2015
• Madeleine Böhme, Wie wir Menschen wurden, 2019
• Wilfried Westheide et.al. (Hrsg.), Spezielle Zoologie. Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, August 2020

Der 06.Beitrag zum Jahresprogramm SPRIT  und SPIRIT des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2020
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