Die Bilder von Leopold Schröder entstanden nach Piaget entwicklungspsychologisch an der Schwelle von der konkret-operatorischen Intelligenz zu der formalen Intelligenz. Das Kind lernt in dieser Entwicklungsphase nicht mehr nur aus der konkreten Operation abzuleiten, sondern zusehends aus den Reaktionen seiner Umwelt allgemeingültige Regeln abzulesen und diese allgemeingültigen Regeln vice versa anzuwenden, um Vorhersagen zu treffen.
Und das geschieht nicht nur auf der dinglichen Ebene, sondern auch auf der ideellen, insbesondere auf der moralischen Ebene.

Denn laut Piaget ist die Entstehung der Moral nicht wie meist angenommen vor allem ein Ergebnis bloßer Internalisierung, d.h. bestimmt durch die konformistische Übernahme von Regeln und Normvorstellungen, die das Kind in dem umgebenden gesellschaftlichen Milieu vorfindet.

Für ihn ist sie das genaue Gegenteil: die entscheidenden Fortschritte dieser Entwicklung vollziehen sich unabhängig vom Zwang der sozialen Umwelt. Sie sind das Ergebnis einer schöpferischen Konstruktion, in denen das Kind versucht, seine Wünsche und Bedürfnisse
mit seiner Umwelt in Einklang zu bringen.

Doch wie sieht nun dieses gesellschaftliche Milieu aus, in dem das Kind versucht, sein moralisches Gerüst zu entwickeln?

Unsere Gesellschaft ist zusehends geprägt von dem eingangs bereits genannten Infantilismus, auf dessen kulturhistorische Bedeutung Johan Huizinga unter dem Begriff Puerilismus erstmals hingewiesen hat und mit dem er das infantile Verhalten erwachsener Menschen in der Moderne bezeichnet.

Dazu zählt er unter anderem das Bedürfnis nach banaler Zerstreuung, die Sucht nach Sensationen, die Lust an Massenschaustellungen, die Unterstellung von bösen Absichten oder Motiven bei anderen, die Unduldsamkeit gegen jede andere Meinung sowie maßloses Übertreiben von Lob und Tadel.

Die erwachende Intelligenz eines Kindes wird also mit einer verkehrten Welt konfrontiert, in der Erwachsene, die von dem Kind zunehmend „erwachsenes“ Verhalten fordern, selbst kindisch agieren. An diesem Punkt revoltiert das Kindliche gegen das Kindische: Das Kind findet eine „Verkehrung“ vor, die es selbst wieder ins Gleichgewicht bringen will. Es unternimmt den Versuch einer „Verkehrung der Verkehrung“.

Der naheliegendste Schritt, um dieses schwierige Unterfangen zu bewerkstelligen, besteht in der ebenso schlichten wie effektiven Strategie des Überzeichnens. Der vorgefundene Zustand wird ins Gargantueske gesteigert, um seine Abstrusität vor Augen zu führen:

• Freikörperkultur, Sexualtabus und die verleugnete Geilheit der Erwachsenenwelt kumulieren zu Orgien, die dazu noch voyeuristisch dokumentiert werden,
• der narzistische Körperkult endet in der Inszenierung grotesk aufgeblasener Muskelgebirge,
• der automobile Wahn im Verein mit der Verdrängung von Unfallstatistiken erlebt sein Armageddon im tödlichen Kataklysmus der Massenkarambolage,
• und schließlich werfen die Opfer eines im höchsten Maße infantilen Größenwahns dem „Größten Feldherren aller Zeiten“ in einem Akt der Verweigerung ihre Waffen vor die Füße.
Spätestens hier hat die Überzeichnung, die reine Hindeutung auf einen Mißstand zu der Formulierung einer konkreten Tat, einem Akt des Widerstands gegen den status quo gefunden.

An diesem Punkt wird die Entscheidung verständlich, authentische Kinderzeichnungen zu zeigen, statt nur aktuelle Arbeiten, die eine entsprechende Haltung beziehen:

Während der erwachsene Künstler bereits lange wieder durch die Mühlen der gesellschaft-lichen Anpassung gegangen ist und um den Zynismus des normativen Verhaltens weiß, ist die Perspektive des Kindes ungefiltert und unvermittelt.
Die Bilder, mit der die kindliche Psyche versucht mit der oft kindischen Welt der Erwachsenen umzugehen, sind ohne Rücksicht auf eine Außenwirkung entstanden. Im Gegenzug berühren sie uns unmittelbar, da wir ihre Intention nicht in Frage stellen. Der erwachsene Künstler hingegen, der eine solche Position bezieht, gerät immer in den Verdacht eine pädagogische Absicht zu verfolgen.

Einer anderen Künstlerin, mit der ich zusammenarbeiten durfte, wurde von ihrer Professorin die provozierende Frage gestellt, ob sie denn „Weltverbesserer-Kunst“ machen wolle, was in den Augen der Professorin offenbar ein Makel war.
Die 08. Ausstellung im Jahresprogramm Park&Ride des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

Vernissage
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