Die Revolte des Kindlichen gegen das Kindische - Einführungsrede zu einer Ausstellung von Leopold Schröder
Dr. phil. Thomas J. Piesbergen

In der zeitgenössischen Kunst begegnen wir schon seit geraumer Zeit den Zeichen einer Verweigerung von Virtuosität. Bilder und Objekte erwecken häufig den Eindruck des Provisorischen, des Ephemeren, des Entwurfs oder den Eindruck des Naiven.

Es scheint, als suchten Illustratoren und Freie Künstler ihre Positionen vermehrt in den regressiven Bildwelten oder mit den Ausdrucksmitteln des Kindes, und man gewinnt den Eindruck, es läge eine gewisse Atmosphäre der Verweigerung in der Luft, eine Opposition gegen das, was als die gegenwärtige Welt des Erwachsenen und Professionellen konzeptualisiert wird.

Diese Haltung darf allerdings nicht verwechselt werden mit der Haltung, die der Kulturhistoriker Johan Huizinga als „Puerilismus“ oder „Infantilismus“ bezeichnet, die heutzutage zu einem flächendeckenden Phänomen geworden ist, und auf die wir später noch zurückkommen werden.

Als Leopold Schröder seine Ausstellung „Die Verkehrung der Verkehrung“ im Einstellungsraum vorbereitete, stand die Frage im Raum, ob er die Auswahl der gezeigten Bilder unkommentiert lassen solle, oder sie von vornherein kenntlich machen solle als authentische Kinderzeichnungen. Denn genau die haben wir vor uns.

Die Ausstellung zeigt als zentralen Werkkomplex eine Reihe von Zeichnungen, die entstanden sind, als der Künstler zwischen 8 - 11 Jahren alt war.

Ihr Entstehungsprozess begann jeweils mit einer Art Vision. Die Szenen waren von Beginn an vollständig und mit ihrem ganzen Detailreichtum in der Vorstellung des Künstlers präsent.
Den anschließenden Prozess der Umsetzung beschreibt Leopold Schröder als eine Art Eruption, in der er selbst keine andere Rolle einnahm, als die eines Mediums. Dieses Phänomen hat er erst rund 10 Jahre später in Experimenten mit automatischem Zeichnen erneut nachvollzogen.

Die Bilder, die in dieser frühen Schaffensphase entstanden sind, zeigen eine eskalierende und oft auch apokalyptisch anmutende Wirklichkeit:
Präsentationen von bis zur Lächerlichkeit gesteigerten modischen Eskapaden, Bodybuilder, die ihre aufgedunsenen Körper in einer grotesken Fleischbeschau zeigen, FKK-Szenen, die in Orgien münden, Frauen, die winzige, blutende Menschlein verspeisen, schweineähnliche Monstren, die  nackten Frauen nachstellen, Operationsszenen gekrönt von sarkastischen Inschriften und immer wieder Massenkarambolagen mit bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Automobilen und zerstückelten Leichen.

Bemerkenswert dabei ist, daß die Bilder bis auf einzelne Ausnahmen keine medialen Vorbilder haben, also weder in Comic- noch Fernsehwelten wurzeln, wie es bei Kinderzeichnungen solchen Inhalts zu erwarten wäre.
Ebensowenig handelt es sich um die akute Verarbeitung von Erlebtem. Der Künstler hat weder schwere Unfälle überlebt, noch längere Krankenhausaufenthalte durchstehen müssen, und nach eigener Versicherung auch sonst eine glückliche, normale Kindheit gehabt.

Die Frage stellt sich also: woher kommen diese detailversessenen Szenerien, die in ihrer grausamen Phantasie an die Visionen von Pieter Brueghel oder Hieronymus Bosch erinnern?
An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Exkurs zu dem Konzept der kindlichen Intelligenzentwicklung von Jean Piaget einfügen:

Piaget begriff die Ontogenese des Denkens als einen selbstorganisierenden Prozess. In der Biologie sowie in der Physik beobachtete er die Eigenart von Systemen, die, sobald ihr Gleichgewicht gestört wird, sich so zu verändern, daß sie zu einem neuen Zustand des Gleichgewichts finden.


Auch im kindlichen Denken haben wir so einen Zustand des Gleichgewichts, solange es widerspruchsfrei ist und seine beschränkten Voraussagen eintreffen. Allerdings treten sowohl im Inneren des Denkens, als auch in der Sphäre der äußeren Phänomene immer wieder Ungleichgewichte auf: Widersprüche zwischen Urteilen, Entwicklungen, die sich nicht dem erwarteten Ausgang decken, Diskrepanzen zwischen Aussagen und Handlungen. Das Denken versucht immer wieder von neuem, diese Ungleichgewichte zu überwinden:
Es befindet sich in einem steten Prozess der Equilibration.


Die 08. Ausstellung im Jahresprogramm Park&Ride des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

Vernissage
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