Für Prousts literarisches „Ich“ war das süße, mit Tee vollgesogene Gebäck der Trigger, der die akute Erfahrung dieser „Sein-Zeit“ mit all ihrer vielschichtig präsenten Erinnerung ausgelöst hat.

Für uns kann  es eine sich bauschende Gardine im Wind sein; eine Höhlung am Fuße eines Baumes, der bereits lange abgesägt worden ist; der Geruch eines staubigen Dachbodens; das Gefühl von einem Seifenrest in einem nassen Waschlappen; die Form, die abgeplatzter Holzlack auf einem Regal in unserer Kindheit hinterlassen hat; ein bestimmtes Rumoren der Wasserleitung; der Schritt eines Menschen auf der Treppe, den wir unter tausend anderen heraushören könnten; die Hände unserer Eltern; der Traum der letzten Nacht, in den die Erinnerung an einen Traum tritt, den wir vor 20 Jahren geträumt haben.

Und in all das, in diese, durch akut Wahrgenommenes angetriggerte, unermeßlich komplexe Vernetzung von vergangenen Bildern, Empfindungen und Gefühlen, strömen die Eindrücke des jetzt Wahrgenommen ein und vermischen sich mit ihnen zu einem nur uns eigenen, uns konstituierenden, grenzenlosen, allumfassenden „Jetzt“.

Doch dieses „Jetzt“, das unsere Lebenswirklichkeit und alle Erscheinungen darin umfasst, das hinausgreift und das ganze für uns erfahrbare und vorgestellte Universum umschließt, ist gleichzeitig etwas, das nur für uns existiert, das nicht mitteilbar ist und uns deshalb von allen anderen existenten Dingen isoliert.
Es ist unsere Individualität und das, was der Dichter Kurt Drawert als das „Unaussprechliche“ bezeichnet.

Wir erleben Dinge in einer Art, die uns einmalig und nicht mitteilbar erscheint. Doch da der Mensch ein kommunikatives und soziales Wesen ist, will und muß er dieses Unausprechliche in eine begriffliche Form bringen, um es sich selbst fassbar und anderen mitteilbar zu machen. Aus den Versuchen das Unaussprechliche auszusprechen entstand, in der Kluft zwischen den subjektiven Wirklichkeiten, die Poesie.

Mit der Poesie allerdings finden wir uns paradoxerweise wieder in einem normativen System: der Sprache. Denn erst die Sprache macht ein Überwinden der individuellen Isolation möglich durch ihre Eigenschaft zu generalisieren und einen Konsens zu begründen.
Mit ihren Mitteln wird aber nicht nur die Isolation der Individuen überbrückt, sondern auch die Zeit. Und damit treten wir gezwungenermaßen aus der unmittelbaren Innenperspektive des „Jetzt“ heraus. Wir abstrahieren, verallgemeinern, entwickeln objektive, auch jenseits des „Jetzt“ gültige empirische Systeme, und in dem wir unsere Erinnerungen und Erwartungen in eine newton´sche lineare Zeit projizieren, ordnen wir die Wirklichkeit in das  Davor und Danach der Kausalverkettungen.

Mit der Entwicklung von Schriftsystemen in den frühen Hochkulturen, mit denen der systematisierte Konsens schließlich auch physisch und damit unwandelbar tradiert werden konnte, wurde diese Außenansicht von Zeit und Realität endgültig manifest und konnte sich fortentwickeln bis hin zu den modernen Wissenschaften und ihrer Beschreibung der Wirklichkeit. Da diese Außenansicht unsere Kultur seit nunmehr fast 6000 Jahren begleitet und geprägt hat, haben wir gelernt, unser Ich und die Welt getrennt voneinander zu denken. Und wenn wir wahrnehmen, filtern und kategorisieren wir dem Konsens entsprechend.

Aber die unmittelbare Wirklichkeit, die bewußte und unaussprechliche Erfahrung des „Jetzt“ ist damit nicht verschwunden, sie ist nur verdrängt worden. Sie begleitet uns weiter, färbt unsere Wahrnehmungen vorbewußt ein, irritiert uns oder tritt in seltenen Momenten mit einer so plötzlichen Heftigkeit und Totalität hervor, daß James Joyce für diese Bewußtseinsereignisse den theologischen Begriff der Epiphanie gebrauchte.

Jessica Leinen hat den Versuch unternommen, diese Innenansicht des „Jetzt“ und die Bedingungen der identitären Wirklichkeit mit ihrer Arbeit zu untersuchen. Doch sie tut es nicht nach der Methode von Proust oder Joyce, die sich der Innenwelt mit einer radikal subjektiven Erzählhaltung bemächtigt haben. Sie arbeitet vielmehr auktorial, also als „allwissende Erzählerin“. (Ich erlaube mir bei dieser literarischen Terminologie zu bleiben, da sie selbst im Bezug auf ihre Arbeit von einer Narration spricht.)


Jessica Leinen übertritt die ideosynkratische Grenze des in dem eigenen „Jetzt“ isolierten Individuums, in dem sich Proust und Joyce ergehen, und wagt die Aufsicht, wagt die Vorstellung des Plurals von „Jetzt“, der Ballung zahlloser gleichberechtigter Unmittelbarkeiten. 
Präsentation
Vernissage
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