Genausowenig, wie sie den radikal subjektiven Weg gewählt hat, geht sie den generalisierenden Weg und verdichtet, wie es in der Kultur- und Gesellschafts-theorie sonst üblich ist, die einzelnen „Jetztheiten“ zu einer soziologischen Masse, die wiederum als eigendynamische Entität angesprochen werden könnte. 

Sie versucht weder einzelne, ideosynkratische Bezugssysteme kontrastierend neben-einander zu stellen, wie die Vision des perfekten Schrebergartens neben die Studentenbuden-Idylle oder das Wohnatelier des Künstlers, noch zeichnet sie die großen Bewegungen nach, die sich aus dem Zusammenwirken der vielen individuellen Zuckungen ergeben.

Statt dessen läßt sie die isolierten „Jetztheiten“ nebeneinander stehen, fügt sie ein in kleine Häuser, in Rahmen aus Metall oder ausgehöhlte Schwämme, und versucht die Bedingungen, die die Individuen in ihrer Isolation teilen, und ihre Versuche, sich in einem idiosynkratischen „Jetzt“ zu orientieren und es mitteilbar zu machen, metaphorisch zu fassen.

Ein Element, das dabei immer wieder auftaucht, sind kleine lackierte Bohnen, auf denen wir minimalistische Symbole erkennen können. Diese Bohnen sind oft mit dünnen schwarzen Drähten oder Garn miteinander verbunden, gern in Anordnungen, die an einen Stammbaum erinnern. Die Assoziation dieser Kennzeichnungen und Vernetzungen mit den Aufzeichnungen Mendels zur Erbsenzucht, aus der sich schließlich die modernen Genetik abgeleitet hat, sind gewollt.

Natürlich entbehren Jessica Leinens Netzwerke der wissenschaftlichen Systematik, vielmehr können sie gelesen werden als die privaten Versuche mit den sprachlichen, objektiven und logisch-wissenschaftlichen Methoden, die sich in unsere Kultur eingeschrieben haben, in die unmittelbare, subjektive und unausprechliche Welterfahrung eine objektive und mitteilbare Ordnung zu bringen, die Phänomene einer ewigen Gegenwart in die Logik der Kausalverkettungen eines Newton`schen Zeit- und Realitätsverständnisses zu überführen und damit in den zwischenmenschlichen, mitteilbaren Konsens.

In anderen Gehäusen sehen wir Papierstrukturen und Zeichnungen, die an Balken-diagramme erinnern. Doch auch bei ihnen fehlt die Lesbarkeit, die Möglichkeit logisch nachzuvollziehen, welche individuelle Sein-Zeit sich hinter ihnen verbirgt. Es bleiben unzureichende Versuche der Objektivierung des Unaussprechlichen.

Eine weitere Gruppe von Arbeiten besteht aus filigranen skulpturalen Objekten, die sich auf kleinen Sockeln, in denen Uhrwerke verborgen sind, im Kreis drehen und mit jeder Sekunde zusammenzucken, als erwachten sie in jedes neue „Jetzt“ mit einem Erschauern. Jede Sekunde erscheint hier als Epiphanie.
Die Versuche, den eigenen Ort zu bestimmen, um wenigstens mit der räumlichen Eingrenzung der identitären Gegenwart die erfahrene Unaussprechlichkeit einzugrenzen und sich so der eigenen Identität objektiv zu nähern, finden ihre Entsprechung in auf Folien kopierten Karten und Linienmustern, die sich in verschiedenen Schichten auf der Suche nach einem Abgleich überlagern. Doch ist ihre zweidimensionale Logik bereits durch eine mit Hitze herbeigeführte Deformation in die Dreidimensionalität dysfunktional geworden.

Die Vielzahl kleiner verschiedenartiger Existenzen, das Zittern der Individuen beim Gewahr-werden des Jetzt, die konzentrierten, aber ergebnislosen Versuche, mittels objektiver, generalisierender und zeitlich linear zu denkender Symbolsysteme die
subjektive Unmittelbarkeit der Realität zu erfassen, endet jedoch nicht mit der räumlichen und zeitlichen Terminierung der Ausstellung.

Wir sehen hier nur einen kleinen Ausschnitt dieser individuellen „Jetztheiten“, nur einige Exemplare eines Projekts ohne definierte Ränder. Denn so wie der Ursprung der Raumzeit, der Mittelpunkt des Universums, der Ort der ersten Quantenfluktuation, die im Urknall alle Wirklichkeit geschaffen hat, überall liegt, so gibt es immer noch ein nächstes, ein weiteres „Jetzt“,  nur einen Schritt oder nur eine handbreit von uns entfernt, ein weiteres „Jetzt“, das der Mittelpunkt ist, das das ganze Universum hervorgebracht hat und in sich schließt und dennoch nur für sich selbst existiert.

Und mit dieser Einsicht betreten wir selbst einen poetischen, grenzenlosen Denkraum, in dem wir teilhaben können an der phänomenologischen Innenansicht und dem Versuch ihrer poetischen Objektivierung, an einer Epiphanie der Künstlerin Jessica Leinen, einem Moment bewußt erfahrener „Sein-Zeit“, einem „Jetzt“, in dem sie dessen Plural gewahr wird, in dem sie in die Welt hinausgreift und das Universum einer ewigen Gegenwart und ungezählter Vielheit in sich schließt.


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Juni 2017

Präsentation
Vernissage
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