Der Plural von "Jetzt" - Einführungsrede zur Ausstellung "Jessica Leinen - Dort könnte eine Minute gezählt werden"
von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "Dort könnte eine Minute gezählt werden“ von Jessica Leinen findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Drehmoment", EINSTELLUNGSRAUM e.V., Juni 2017


Eine der ewigen Fragen der Philosophie, der Gesellschaftstheorie und der Psychologie ist die Frage nach Beschaffenheit der Lebenswirklichkeit des Menschen und nach ihrem Zustande-kommen. Und da diese Frage immer wieder von neuem gestellt wird, gibt es darauf eine nahezu unüberschaubare Masse von Antworten.

Auffällig dabei ist, daß in allen Modellen und Hypothesen dem Verhältnis von Masse und Individuum eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wird und sich die Modelle in vielen Fällen auf eine Beschreibung dieses Verhältnisses beschränken.
Entsprechend der 2. Antinomie der reinen Vernunft von Immanuel Kant, sehen wir auf der einen Seite die Vorstellung der Realität als soziale Konstruktion, als das Produkt einer normativen Ordnungsmacht; dem entgegengehalten wird auf der anderen Seite das Primat individueller Freiheit, nach der die Realität das Ergebnis eines fortlaufenden autonomen Entscheidungsprozesses ist.

Je nach der subjektiven Haltung ihrer Schöpfer tendieren die Hypothesen mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung, aber immer versuchen sie, die beiden entgegengesetzten Pole, idiosynkratische Freiheit und regulierenden Konses, und ihren Einfluß auf das Zustandekommen unserer Lebenswirklichkeit gegeneinander auszuspielen oder miteinander abzugleichen.

Verlässt man jedoch diesen Diskurs und begibt sich auf die Ebene der Phänomenologie, in den Bereich des tatsächlichen Erlebens, stellt sich zunächst die Frage, wo und vor allem wann ereignet sich denn eigentlich diese Realität?

Nach der Newton´schen Auffassung, die bis heute den tradierten Konsens über das Wesen der Zeit bestimmt, wurzelt die Realität in den stetig anwachsenden Fakten einer auf immer entschwundenen Vergangenheit, die durch den verschwindend winzigen Brennpunkt der Gegenwart die noch nicht existente Zukunft terminiert. So sehen wir die Realität als einen stetig in der Zeit gleitenden, faktischen Prozess, der sich in einer unauslotbaren Tiefe der Vergangenheit verliert und sich in eine unerreichbare Zukunft erstreckt.

Wenigstens erscheint so der Fluß der Realität und die entsprechende Beschreibung der Gegenwart, wenn man sie von außen betrachtet.

Nehmen wir aber die phänomenologische Innenperspektive ein, müssen wir uns der grenzenlosen Unmittelbarkeit der Gegenwart stellen, dem singulären „Jetzt“, in dem alle Vergangenheit und alle Erinnerungen enthalten sind. Ihre Gegenwärtigkeit wirkt unmittelbar auf unser Tun ein. Das wiederum zielt zwar auf etwas Zukünftiges ab, doch auch dieses Zukünftige ist nichts anderes als eine Ausgestaltung gegenwärtiger Begierden, Ängste und Hoffnungen.
In „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ schreibt Marcel Proust über diese Gegenwärtigkeit der Realität: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein Krug, der mit Düften, Lauten, Vorhaben und Atmosphären gefüllt ist. Was wir Realität nennen, ist ein gewisser Zusammenhang zwischen diesen Empfindungen und den Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.“


Wenn wir in unserer akuten Gegenwart wahrnehmen, erinnern, reagieren, planen und handeln, erleben wir es aus der Innenperspektive, unserem privaten literarischen „Ich“. Wir erleben es nicht bloß als ein stetes Gegenspiel von Norm und Autonomie, da wir, sofern wir uns nur anhand unserer individuellen Abgrenzung von der Gesellschaft definierten, unsere tatsächliche Individualität vollständig aufgeben würden.

Denn unsere Individualität wird nicht dadurch konstituiert, daß wir uns von der normativen Gesellschaft abgrenzen, und wie wir es tun, sondern dadurch was wir von ihr abgrenzen und warum, welche Handlungsimpulse uns dabei leiten. Autonomie ist nur eine leere Form, die erst durch ihren Inhalt relevant wird, durch die von uns erlebte reale Gegenwart, gesponnen aus Empfindungen und Erinnerungen.

Was sich in dieser erlebten Gegenwart verdichtet, plötzlich an die Oberfläche des Bewußtseins tretende Erinnerungsartefakte und ihre bedeutsame Wechselwirkung mit dem Wahrgenommenen, ist unsere Realität. Als Prousts Ich-Erzähler in das mit Tee vollgesogene Madeleine biss, fühlte er sich plötzlich vom Glück wie von einer köstlichen Substanz erfüllt, aber „diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.“

Die Realität und die Identität fallen im akuten Erleben in einer alle Existenz umschließenden Einheit, unserer eigenen unermeßlichen Unmittelbarkeit der Gegenwart zusammen. So wie Raum und Zeit nicht zu trennen sind, sind auch Realität und Identität im Erfahrungs-kontinuum nicht voneinander zu trennen. Im Zen-Buddhismus wird dieses Zusammenfallen von Zeit, Realität und Identität als „Sein-Zeit“ bezeichnet.
Präsentation
Vernissage
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