Zwar empfand er das Ereignis als in hohem Maße real und eindringlich, da es ja sogar mit akuten physischen Empfindungen und fast hyperrealen Details einherging, andererseits hatte es, da es allen Routinen der Vernunft widersprach, etwas Gespenstisches, denn es ließ ihn etwas empfinden, das eigentlich nur innerhalb einer digitalen Realität möglich ist: die gleiche und konkrete Wiederholung der Wirklichkeit.

Dieses Ereignis regte ihn an, sich intensiv mit den Phänomenen Zeit und Erinnerung in einem digital-medialen Kontext auseinanderzusetzen und das erlebte Phänomen in eine Form zu übersetzen, die es metaphorisch zu spiegeln versucht.

Im Zentrum der Installation "p.o.r." steht auf einem Dreibein mit bewußt gewählt mensch-lichen Dimensionen eine rotierende Lichtleiste mit LEDs. Die Rotation und die Lichtimpulse werden durch einen Computer so aufeinander abgestimmt, daß sie unter Ausnutzung des „Persistence of Vision“-Effekts Bilder erzeugen.

Die verschiedenen Eigenarten der Wahrnehmung dieses sog. P.O.V.-Displays korres-pondieren mit verschiedenen Eigenschaften unserer Erinnerung. Wie das Bild des P.O.V.-Displays setzt sich unsere Erinnerung aus einer unüberschaubaren Zahl von Details und Fragmenten zusammen, die von uns zu einem Ganzen zusammengefügt werden, zu einem sinnvollen Muster, das uns im Abgleich mit der Gegenwart wahrscheinlich erscheint.
Gleichzeitig bleibt die Erinnerung geisterhaft, nicht wirklich greifbar. Sie hat keine Substanz, keinen Körper, so wie das vom P.O.V.-Display erzeugte Bild in der Luft zu schweben scheint und keine Körperlichkeit hat, ganz so wie Henri Bergson das abstrakte, aus Mustern aufgebaute Erinnerungsgedächtnis charakterisiert.


Dieses Bild wird wiederum aufgefangen und gespiegelt zwischen zwei halbdurchlässigen, runden Glasscheiben, in denen es sich bis in eine verdämmernde Unendlichkeit wiederholt. Zu Beginn der auf dem P.O.V.-Display gezeigten Bildsequenz entsteht ein Tunnel aus Licht, der gelesen werden kann als Einladung in eine erinnerte, zeitliche Tiefe einzutauchen, als ein Time Tunnel, ein Wurmloch, das zwei Punkte der Raumzeit miteinander verschmelzen läßt.
Darauf folgt das flimmernde Ziffernblatt einer Uhr, das sich rasch deformiert, einerseits als Symbol der Zeitgebundenheit, der ephemeren Qualität aller Erscheinungen, gleichzeitig auch ein Verweis auf Dalis schmelzende Uhren in dem Bild „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (engl. Persistence of Remembrance) und deren Konnotation, die Geltung der zeitlichen Linearität löse sich in der im Traum erlebten Erinnerung auf, so wie es auch Wonek Lee am Ufer des Westsees selbst erlebt hat: vollständig und tief.

In dem weiteren Verlauf der Bilder tauchen mehrfach Darstellungen des menschlichen Gehirns auf. Dadurch werden Assoziationen angestoßen, die die verschiedenen Reflektionsebenen auf den Glasscheiben in die Nähe der Darstellung eines MRTs rücken, eine von Wonek Lee bewußt eingesetzte gedankliche Verknüpfung: denn so wie in einem MRT versucht wird, die vollständige Darstellung des untersuchten Objekts durch seine scheibenartige Fragmentierung zu erreichen, so wäre es, der Vernunft folgend, auch notwendig, um einen erlebten Moment in der Erinnerung in seiner ganzen Tiefe wieder auferstehen zu lassen, ihn scheibchenweise, in allen Details und aus allen Blickwinkeln wahrzunehmen. Denn genauso erschien Wonek Lee die akute Gegenwart der Erinnerung am Westsee.

Um schließlich die vermeintliche Perfektion der Technik und die durch sie erträumte unbegrenzte Machbarkeit zu konterkarieren, hat Wonek Lee bewußt auf eine makellose Wiedergabe der Bildsequenz verzichtet. Denn schließlich, wie Bergson es ausdrückt, schwillt das Leben über den Intellekt hinaus, dessen Repräsentation der Computer ist. Die Spiegelung der Wirklichkeit durch die Vernunft und ihre digitale Prothese muß an ihrer wesensbestimmenden Eigenart scheitern, in etwas Fließendem nach statisch sich wiederholenden Mustern zu suchen, in etwas Fließendem, das sich wesensbestimmend der Wiederholung widersetzt.

Ein letzter Aspekt, auf den ich hinweisen möchte ist der Verweis auf diesen Unterschied zwischen der Landschaft und der Karte, zwischen der gelebten fließenden Wirklichkeit und ihrer aus Mustern aufgebauten Simulation: Jedes mal, wenn es nicht mehr von dem Leuchten des P.O.V.-Displays überstrahlt wird, stehen wir, reflektiert von der halb getönten Scheibe, erbarmungslos dem Zahn der Zeit unterworfen und in steter Veränderung begriffen, unserem eigenen Spiegelbild gegenüber. Auch wenn wir uns in eine überzeitliche Wiederauferstehung der Vergangenheit, in eine digitale ewige Gegenwart flüchten wollen, werden wir doch immer wieder und unweigerlich in die sich stets fließende, wandelnde und vergehende Zeitlichkeit unserer Körper zurück geworfen.





ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VGWort, Mai 2017

Einführung: Dr. Thomas J. Piesbergen
Vernissage
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