Die Gegenwart der
Erinnerung - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Wonek Lee -
p.o.r." von Dr. Thomas Piesbergen. Vor wenigen
Tagen hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ich wurde
mitten in der Nacht von meinem jüngsten Sohn aus einem
ausgesprochen intensiven und bildgewaltigen Traum
geweckt. Während ich, noch immer ganz umfangen von den
Traumbildern, den Kleinen wieder beruhigte, dachte
ich, wie gut es war, daß er mich geweckt hatte, sonst
wäre der Traum durch die weiteren durchschlafenen
Nachtstunden sicher verschüttet worden, so als hätte
ich ihn nie geträumt.
Plötzlich wurde mir klar, daß das Traumgeschehen, das ich vor wenigen Momenten als akute, intensive Gegenwart empfunden habe, nicht in dem Moment für mich zu einem faktischen Teil meines Erlebniskontinuums geworden ist, in dem ich es geträumt habe, sondern erst in dem Moment, in dem ich erwachte und imstande war, mich daran zu erinnern. Die Paradoxie, die mich bei diesem Gedanken elektrisiert hat, bestand, darin, daß die Entscheidung, ob ich das Traumgeschehen als eine intensive Gegenwart empfinden konnte, nicht in dieser akut erlebten Gegenwart begründet gewesen ist, sondern durch ein zu dem Zeitpunkt noch zukünftiges Ereignis, nämlich das Erwachen. Erst die zukünftige Möglichkeit des Erinnerns ließ also die Gegenwart bewußt erlebbare Realität werden. Doch wenn das
zukünftige Erinnern die gegenwärtige Realität
terminiert, eröffnet sich gleich das nächste Problem:
Dieses erst noch kommende Erinnern, das das
gegenwärtige Erleben erst hervorbringt, ist zugleich
so geartet, das es das Erinnerte nur subjektiv und
reduziert festhält, also einer authentischen
Vergegenwärtigen zuwiderläuft. Es scheint also
faktisch kaum möglich, sich ein vollständiges und
konsistentes Bild erlebter Ereignisse zu machen.
In seinem Werk Schöpferische Entwicklung schrieb Henri Bergson 1907 „Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag. So kehrt sich der Verstand, einzig auf das konzentriert, was sich wiederholt, einzig darin befangen, Gleiches mit Gleichem zu verschweißen, vom Schauen der Zeit ab. Ihn widert das Fließende, und er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Wir denken die reale Zeit nicht. Aber wir leben sie, weil das Leben über den Intellekt hinaus schwillt.“ |
Wir können
also weder den tatsächlichen Ablauf eines Ereignisses
rekonstruieren und wiederholen, noch können wir im
Anschluß an ein Ereignis dasselbe in seiner Gänze in
der Erinnerung wieder beleben. Das einzige, was wir
können, ist die wenigen Elemente, die sich uns
eingeprägt haben, zu einem sinnvollen Muster zu
ordnen, das uns im Abgleich mit dem Vorgefundenen
wahrscheinlich erscheint. Das Bewußtsein einer
Gegenwart kann, nach Bergson, erst durch die
abstrahierende Rückschau entstehen, die körperliche
Gegenwart selbst ereignet sich bewußtlos.
Die Eigenart des Verstandes Muster aufzuspüren hat in den vorgeschichtlichen Kulturen zu der "erstarrten" mythischen Vorstellung kollektiver Tierseelen geführt (Joseph Campbell). Später ordneten sie sich als Naturgeister und Gottheiten zu einem Pantheon, dem eine eigene Lebenssphäre, ein eigener Götterhimmel zugestanden wurde. In der Antike wurde dieses Wahrnehmungsprinzip von Aristoteles neu formuliert in Gestalt der aristotelischen Urbilder, den ursächlichen Ideen, die den Erscheinungen unserer Welt zugrunde liegen sollten. Der Mensch erschuf sich so eine bildhafte Gegenwelt, eine idealisierte Spiegelung der erlebten Wirklichkeit. In der Gegenwart begegnen wir dieser Eigenart des menschlichen Verstandes, sich Spiege-lungen zu schaffen, in der digitalen Protethik, den Computern und ihren Algorithmen, mit denen unsere Kapazität der Welterkenntnis und Effizienz vervielfacht werden soll. Zunächst war das zentrale Paradigma der digitalen Gegenwelt die Simulation. Der Mensch versuchte die von ihm erkannten Muster in Algorithmen zu übersetzen, um mit darauf basierenden Rechenprozessen eine virtuelle Wirklichkeit zu schaffen, die der unsrigen soweit wie möglich entsprechen sollte, sei es, um Klimaprognosen zu erstellen, um besonders realistische Computerspiele zu programmieren oder einfach nur um Benutzeroberflächen zu schaffen, die ein Gefühl der analogen Interaktion hervorrufen. Doch die
digitalen Welten, die dadurch geschaffen worden sind,
unterscheiden sich in einem maßgeblichen Punkt von
unserer Lebenswirklichkeit, denn in ihnen ist es
möglich, die gleiche, konkrete Wirklichkeit zu
wiederholen - schließlich sind sie ein reines Produkt
unserer mustergenerierenden Vernunft:
Beginnen wir ein Computerspiel von neuem, findet sich unser Avatar in der immer vollkommen identischen Situation wieder; die Abfolge der Ereignisse folgt immer dem gleichen zeitlichen Muster; |
Einführung: Dr. Thomas J.
Piesbergen |
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