Aber vielleicht gedeihen die Regeln gar nicht auf einem Boden, sondern wachsen, erwachsen ganz woanders, in der Luft, zwischen uns, wie wenn wir am Tisch sitzen, aber kommen da nicht schon Regeln zur Anwendung, Tischmanieren etwa, wie: man spricht nicht mit vollem Mund, wenn wir es nur oft genug sagen, man spricht nicht, sagen wir, mit vollem Mund spricht man nicht, sagen wir mit vollem Mund und nehmen noch einen Nachschlag, zum Nachtisch, immer und immer wieder, man spricht nicht sagen wir und kauen auf diesen Wörtern herum, bis sie ihren Sinn verloren haben oder wir ihren Sinn aus ihnen herauslöst haben wie die Nährstoffe aus den Speisen, die wir verbrauchen im ewigen Kreislauf des Stoffwechsels. Verbrauchen wir auch den Sinn solcher Regeln, wenn wir sie lange genug gebrauchen?
Oder verschiebt sich da nicht zumindest etwas? So wie auf den Zeichnungen von Jutta Konjer, die etwas wiederholen, wie einen Sprechakt, wie wenn jemand sagt, mit feiner Stimme, „ein Tisch ist …“ und dann so etwas dabei herauskommt, ein Tisch mit einem, ein Tisch mit zwei Beinen, ein Tisch mit drei, und vier und schließlich fünf Beinen und noch mehr, mit feinem Strich, die Anzahl der Beine vermehrt sich auf wundersame Weise, mit jedem Bild, wie die Standbilder eines Films, da kommt etwas in Bewegung, was sonst eigentlich still- und feststeht, im täglichen Gebrauch, die Frage nach dem, was denn ein Tisch eigentlich ist? Wie soll er aussehen? Gibt es den idealen Tisch, der Vorbild und Richtschnur ist und an dem sich alles messen lassen muß, was als Tisch gelten will? Platon nannte das die Idee (eidos), die er nicht nur in Bezug auf Möbel, Tiere und Menschen einführte, sondern auch in Bezug auf Gerechtigkeit, Tapferkeit und dem Guten schlechthin. Eine absolute Norm, sozusagen, unwandelbar und unumstößlich. Ein Boden, so hart und dabei doch so fern, daß kein Boden der bloßen Tatsachen jemals damit mithalten könnte: Ein metaphysisches Fundament der absoluten Normen.

Die Zeichnungen von Jutta Konjer nun scheinen diesen absoluten Anspruch platonischer Maßstäbe zu bezweifeln und unterminieren ihn mit ihrer feinen Geste der Wiederholung und gleichzeitiger Verschiebung: Wer sagt eigentlich, daß ein Tisch nur Tischbeine haben darf, auch Menschen haben manchmal Holzbeine und können trotzdem damit gehen, warum also soll ein Tisch nicht auch Menschenbeine haben oder Beine von anderen Tieren borgen dürfen? Wer wollte ihm das verwehren? Solange er darauf stehen kann, still, natürlich, ganz still, hindert es ihn nicht daran, seinen Zweck zu erfüllen, der darin besteht, die Tischplatte zu tragen; da, wo der Zweck nicht berührt oder besser, beeinträchtigt wird in seiner Erfüllung, wird es schön, da fängt das
Ästhetische an, wo der Zweck keine Rolle mehr spielt, wo es nicht mehr um die Zweckmäßigkeit geht, denn, so sagt der Königsberger Philosoph auf einem seiner stillen Rundgänge durch die Stadt, wir verfolgen keinen bestimmten Zweck, wenn wir uns mit dem befassen, was schön ist, wie wenn wir einen bestimmten Zweck verfolgen, wenn wir etwa Möbel aussuchen, um uns wohnlich einzurichten, also lieber ein Tisch mit vier oder mit noch mehr Beinen? Vielmehr geht es um etwas, was jenseits von bloßen Zwecken und Mitteln liegt; wenn es nämlich um das Schöne geht, verfolgen wir nicht ein bestimmtes Interesse, sondern stellen fest, daß uns etwas gefällt, ohne uns danach zu fragen, ob der Gegenstand, den wir schön finden, uns bei der Erfüllung irgendeines unserer persönlichen Interesse dienlich sein könnte; denn irgendetwas muß da sein, das uns gefällt, und zwar, wie Kant es nennt, mit einem „interesselosen Wohlgefallen“, zum Beispiel das Bild eines Tisches.1 

Aber auch das Schöne folgt Regeln, wenn man Kant folgt, auf seinem Weg, der jüngste ist er ja auch nicht mehr, er geht nur noch langsam, die Uhren gehen deswegen nicht langsamer, aber vielleicht werden sie doch nach ihm gestellt, mancherorts…  und vielleicht finden es heutzutage viele altmodisch, von einem Kunstwerk zu sagen, es sei schön!

Entscheidend ist, daß wir mit diesem Urteil über ein Kunstwerk nicht nur unseren subjektiven Geschmack zum Ausdruck bringen, etwas geschmäcklerisch, so wie wenn einer sagt, daß er Hunde mag, aber keine Katzen, denn über Geschmack in diesem Sinne lässt sich bekanntlich nicht streiten; vielmehr, so Kant, können wir zurecht von anderen erwarten, daß sie unserem Urteil zustimmen, sie sollen unserem Urteil zustimmen, da wir eigentlich nicht über einen Gegenstand urteilen und seine ästhetische Eigenschaft, sondern eigentlich etwas damit aussagen über uns selbst, darüber, wie unsere kognitiven Vermögen, Erkenntnis und Wahrnehmung, auf eine solche Weise angeregt werden, daß es uns ein Vergnügen bereitet, eine Lust, die aber nicht gelenkt ist von irgendeinem bloß persönlichen Nutzen- oder Vorteilsdenken. Voraussetzung dafür ist nach Kant, daß es etwas gibt, was allen gemeinsam ist, eine gemeinsame Grundlage, nämlich der Gemeinsinn. Dieser Gemeinsinn weist weit über das bloß Ästhetische hinaus, denn er bildet die Grundlage dafür, daß es überhaupt so etwas geben kann wie eine intersubjektive Verständigung

1Kant, Kritik der Urteilskraft, § 32.
Die 01. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
back next
Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek