Ralf Jurszo: „In liehter varwe stat der walt“ (in lichter Farbe steht der Wald)
EINSTELLUNGSRAUM e.V., 8. September 2021

Lieber Ralf, liebe Elke, liebe Freunde der Verkehrskultur,

ein Amoenometer ist ein besonderes Werkzeug. Es handelt sich um einen Pflock, den man mit einem Hammer ins Herz des Erdreichs treibt, wie bei Vampiren, nur, dass man nicht das Leben aushau-chen, sondern einhauchen möchte bwz. testen, ob die Erde den Odem der Natur noch in sich trägt und Triebe bilden kann. Beides ist „Austreiben“, nur in denkbar unterschiedlicher Weise, Endozismus statt Exorzismus sozusagen. Wenn der fahle Pflock zu sprießen beginnt, dann handelt es sich um einen locus amoenus, einen lieblichen Ort.
Der liebliche Ort ist eine kulturelle Kategorie seit der Antike. Eine Landschaftsidylle, in der man Ruhe und Frieden findet, Schatten vor der sengenden Sonne, einen labenden Brunnen in dörrender Hitze, kurz: ein Ausgleich zur Mühsal des Lebens, ein Refugium, eine Idylle. Sakrale und profane Zuschreibungen reichen vom Paradies bis zur Pastorale und umfassen Sündenmoral ebenso wie Schäferstündchen. Ralf Jurszo hat auf seinen Spaziergängen mit Mathias Will vor einem guten Jahrzehnt den Amoenometer ins Herz der Natur getrieben, zumindest derjenigen, die die innere Wünschel-rute hinter dem unscheinbaren Äußeren im innersten Kern auch unwirtlicher Orte zu entdecken vermochte.

Man könnte an Wunder glauben, geht es doch um's Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Aber so wie uns die Epigenetik die transgene-rationelle Überrtragung als Einschreibung ins Erbgut lehrt, so sucht auch die Parapsychologie zwischen Physik und Psychologie einen dritten Weg. Die Amoenologie könnte sich dementsprechend der Erforschung paranatürlicher Phänomene widmen und die loci amoeni an den loci terribilis in den Zwischenreichen der Zivilisation suchen.

Aus der praktizierten Promenadologie jedenfalls, der Spaziergangswissenschaft, sind imaginäre Reisen durch Wälder geworden, die Jurszo nach Fotos malt. Keine solchen, die besonders gut komponiert sind, eine besonders typische Idylle oder einen besonders urigen Wald wiedergäben. Eher solche, die sich zufällig darbieten

die Wald sind, aber dann doch nicht gleich den „deutschen Wald“ aufrufen mit seinen stämmigen Eichen oder nadelnden Spitzen. Jurszo hält beiläufigen Wälder in so genannten Tageslichtleuchtfarben fest, die er mit Wasser verdünnt und in Aquarellmanier aufträgt. Sie bilden durch Lasuren und Mischungen merkwürdige, oftmals überraschende Farben aus, die mit normalen Wasserfarben niemals zu erreichen wären. Statt eines schlickigen Braungraus ergeben beispielsweise Rot und Grün ein strahlendes Gelb.

Apotropäisch könnte man Jurszos Äquidistanz zu gängigen Begriffsclustern, Normfragen, Kategorienbildungen nennen. Apotropäisch, das heißt „das Böse abwehrend“, und zwar, indem man es mit Bösem beschwört. So wurden die mittelalterlichen Höllendarstellungen zum Einfallstor der Phantasie, umgekehrt aber stellt sich auch die Frage nach der apotropäischen Funktion von Heino oder Helene Fischer. Der Bann des Bösen und die Beschwörung des Idyllischen gehen dann oft einen faustischen Pakt ein, allerdings einen auf biedermeierliche Zwergengröße geschrumpften wie etwa bei Spitzweg, dem Erschaffer des „Armen Poeten“, der mit dem Schirm überm Kopf in seinem Bett hockt.  Auf dem einsamen „Bildergipfel“ (so heißt ein Online-Shop, in dem man Kunstreproduktionen kaufen kann) dieses beliebten und in zahlreichen Varianten vervielfältigten Künstlers stehen die „Eremiten“, die wie Gartenzwerge, Hobbyköche oder Hausmütterchen Blumen gießen oder Hühnchen braten. Diese „Bildergipfel“ sind als Wasserzeichen den Bildern auf der Webseite eingebrannt, um zu verhindern, dass die Plagiate ihrerseits plagiiert werden, so wie Ralf Jurszo es weiland mit seinen Bildern gemacht hat, wo in Waldlichtungen Frauennamen in Fraktur auftauchen, als seien dort Verbrechen geschehen.

Was auf dem „Bildergipfel“ unfreiwillig zum biedermeierlichen Zerrbild einer Idylle gerinnt, ist bei Jurszo unterschwellig kontaminiert. Namensnennungen machen die Waldeinsamkeit zu Schauplätzen finsterster Verbrechen, und die Tageslichtleucht-farben vergiften die Natursehnsucht der Städter in den Naherholungsgebieten. Nicht mit dem Amoenometer möchte man dort lustwandeln, sondern mit dem Geigerzähler – wie die Abenteuerreisenden, die in Tschernobyl dem Katastrophenkitzel des unsichtbaren Supergaus in Schutzanzügen nachspüren.

Der 08.Beitrag zum Jahresprogramm SEELENKLIMA des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2021
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