GANGARTEN: Verdichtung des Jahresprogrammes  Schalten und Walten  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.                                 03.08.2012

Vielleicht mochte der Italiener keine kurzen Hosen. Italien war schließlich ein katholisches Land und auch die Kirchen wurden nicht müde zu betonen, dass man sie in kurzen Hosen nicht betreten durfte. Warnschilder auf denen kurze Hosen durchgestrichen waren, was mich damals schlussfolgern ließ, Kirchen generell nicht betreten zu dürfen – unsere Kleidung war schließlich mit einem Schrägstrich versehen. Niemand erwünscht. Und da wir im Sommer ausschließlich kurze Hosen trugen und wir auch ansonsten der Abbildung zumindest ähnelten, schlossen wir: Keine Kinde in  italienischen Kirchen. Wir wollten da sowieso nicht rein, und deshalb blieben wir auf dem Rücksitz unseres Fiats und warteten auf den gottgewollten Hitzschlag.
Heute denke ich nicht mehr an überhitzte Autos, wenn ich nach Italien fahre. Ich wundere mich auch nicht über die Fehlkonstruktion des Herstellers. Ich sitze auf alten historischen Plätzen, betrachte den zentral gelegenen Brunnen und streife gelangweilt das Reiterstandbild, das irgendjemanden darstellt, den ich nicht kenne. Obwohl es groß ist und den Platz beherrschen sollte, beherrscht es vielleicht den Platz, nicht aber mich. Es ist älter als die Plastiksitze unseres Fiats, an die ich mich schon kaum erinnere. Der seit langem verstorbene Reiter ist mir noch fremder. Wäre es Dante, hätte ich ihn gelesen. Die Worte hätten eine Brücke der Erinnerung gebaut. Ein Pferd dagegen macht ihn nur ein bisschen größer.
Ich weiß nicht, ob es in Deutschland viele Reiterstandbilder gibt, falls ja, sind sie mir nie wirklich aufgefallen. Ich erinnere mich an den langen Ludwig, der in der Mitte Darmstadts auf einem zentralen Platz stand und genaugenommen überhaupt nicht lang war. Er stand auf einer riesigen Säule, ein guter Orientierungspunkt. Nur Ludwig selbst war kaum zu erkennen. In schwindelerregender Höhe überwachte er die TH-Studenten, die in ihrer Mittagspause in das Einkaufszentrum hetzten oder die Museumsbesucher, die das angrenzende Landesmuseum aufsuchten. Man wusste nicht warum Ludwig sich in Erinnerung brachte, indem er sich von allem entfernte. Ludwig schien ein Außenseiter. Es lohnte nicht, sein Gesicht zu sehen.
Mit den Reiterstandbildern Italiens verhält sich das anders. Sie stehen auf einem imposanten Podest und haben ein ausuferndes Volumen, das auch dem blindesten Pauschaltouristen verrät: Da steht etwas. Es ist wichtig und: Es kann reiten.
Für Pferde hege ich im Übrigen ein ähnliches Interesse wie für Automarken. Ein Fortbewegungsmittel in alt, mehr ist es nicht und doch scheint es mehr zu sein, hätte sich ansonsten nicht selbst der hinterletzte Schriftsteller Italiens auf einem Pferd abbilden lassen.
Der Ursprungsgedanke ist mir dabei sogar einleuchtend.


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Fotos der Veranstaltung Ina Schlafke
Auszug aus dem Konzept 03.08.12

Grob gesagt, denken wir dabei an die Wechsel zwischen Schritt, Trab und Galopp der Pferde, die dann den GŠngen im Auto oder anderen Fahrzeugen den Namen gaben.

Alle diese Bewegungen, Gangwechsel und die damit verbundene Aufmerksamkeit und Kommunikation, greifen in die "Verkehrsflüsse" ein und bewirken Beschleunigungen und Verlangsamungen bis hin zum Kollaps durch Unfall oder Stau.
Die Aufmerksamkeit, die die Entscheidungen für die Gangwechsel bedingen, ist ja nicht mehr nur vom Gelände und dem Zustand der Straße abhängig, sondern in der Stadt auch von der Beobachtung, d.h. Beurteilung eines sehr komplexen Verkehrsgeschehens, in das sich Menschen, Eigenschaften und Temperamenten entsprechend einschalten.
(...)
Wie orientieren sich Menschen in der Stadt? Wie geschieht das Schalten im eigenen Kopf, das dann (auf welche Weise?) zum ,richtigen' Schalten im Auto führt? "Welche sensorischen und kognitiven Fähigkeiten benötigen wir dafür?" (...)
Die Urform der "Schalte", jener Stab, mit dem der Fährmann das Boot dirigiert, kehrt in abgewandelter Form in allen technischen Weiterentwicklungen von Schaltelementen wieder: Bei der Aufreihung der Zahnräder greift der Stab, der über dem Getriebe liegt, immer das entsprechende Zahnrad heraus, um die gewünschte Kombination aus Geschwindigkeit, Gelände/Kraftaufwand zu realisieren. .... Das Formenrepertoir ähnelt sich. Wie kommen diese Modifikationen zustande?

Elke Suhr, unter Verwendung der Protokolle der Vorstandssitzungen des EINSTELLUNGSRAUM e.V., 2012
 
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek
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