Mit der Information, dass aus Sicht der Neuropsychologie Asymbolie als eine Folge von Fehl- oder Nichtfunktion des posterioren Scheitellappens (verursacht durch Gehirnverletzungen oder Tumore) zu Unfaehigkeit von Zusammenbringen von Symbolisierungen mit den damit bezeichneten Gegenstaenden fuehrt, wird das Experiment mit Symbolen allerdings empfindlich gestoert. Auch wenn diese Beschreibung aus medizinischer Sicht unbestreitbar ist, greift sie aus kultureller Sicht zu kurz; denn Asymbolie ist auch dann gegeben, wenn durch ein Ereignis (Schock, Trauma) eine Überforderung der Psyche oder eine Überreizung der Sinne gegeben ist. In abgeschwächter Form trifft das auch auf einen Überschuss an Informationen zu, der durch einen unbekannten Sachverhalt, ein befremdliches Ding oder ein provokantes Kunstwerk gegeben ist, welcher nicht oder noch nicht durch Zeichen und Symbole gebändigt werden kann.

Außerdem zitiert Bahlke-Meisel Frances Yates, die Spezialistin für die Entwicklung der abendländischen Zeichen- und Symbolsprache, die sich auf Sokrates bezieht, der bemerkte, dass das Vertrauen in die Symbolisierung durch Schrift auch die Erinnerung beeinträchtigen würde. Er meinte, dass die Fähigkeit, sich an das Eigene zu erinnern, verwahrlosen würde, je mehr Macht den Zeichen zugebilligt sei, Erfahrungen und Erinnerungen zu bewahren. Hierbei ist impliziert, dass das Zeichensystem als eine kollektive Errungenschaft aufgefasst ist, wodurch sich die Abhängigkeiten des Individuums schon abzeichnen.

Es geht um Erfahrungen und um Erinnerungen, die latent sind, solange sie noch nicht in Formen, in Bilder, Romane, Gedichte etc. abgelegt sind, so dass jeder für sich das durch Unverstandenes und Unzugängliches entstehende Defizit erfährt und den Mangel herausfinden muss. Es geht um die nicht oder unzureichend durch Schrift, Worte und Bilder vergegenstŠndlichten Bereiche der Welt.


VI. Krise der Repräsentation

Folgenschwer wirkt sich die Krise der Repräsentation in den Künsten aus, wo es zu Brüchen kommt, die einschneidender sind als die in immer kürzeren Abständen verkndeten Paradigmenwechsel.

Julia Kristeva* stellt nach ihrer Lektüre von Sigmund Freud: Das Unheimliche** fest, dass Jentsch*** zufolge Magie, Animismus oder, prosaischer, <intellektuelle Unsicherheit> das Zustandekommen des
Unheimlichen begünstigen (Kristeva, a.a.O. S. 202):
"Das Symbol hört auf, Symbol zu sein, und übernimmt 'die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten'(S. Freud, S. 267) In anderen Worten, das Zeichen wird nicht mehr als arbiträr erlebt, sondern nimmt eine reale Bedeutung an. Als Folge läßt sich die materielle Realität, die das Zeichen üblicherweise bezeichnen soll, allmählich zugunsten der Imagination auf, die lediglich 'die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen' (S. Freud, ebd.) ist."  (Kristeva a.a.O. S.202f)
Die Zeichen werden aus ihrer symbolischen Funktion gelöst, sie werden "verdinglicht" (ebenda), wodurch sie beginnen, ein Eigenleben zu führen. Dieses Zeichen der Entsymbolisierung als ein Indikator für Sprachzerstörung beobachtete schon Benjamin**** im "Trauerspielaufsatz" als ein Zeichen der Verselbständigung der Schrift, das er im Falle des Barocken Theaters durch die Einführung der Majuskel gegeben sah.

In diesen Grundlagen liegt ein Schlüssel für die Sprachexperimente Hugo Balls sowie der Lettristen und den Cut-Up Experimenten von Brion Gysin. Hier nimmt die Schrift visuellen Charakter an und verliert ihre Funktion als Kommunikationsmittel. Das Interesse wird auf ihren Objektcharakter gerichtet und macht sie zum Gegenstand visueller Experimente. Man denke nur an die Zahlen und Buchstaben, die von den Pop-Künstlern zu Gemälden und Plastiken verarbeitet wurden (z.B.: Robert Indiana). Die Krise der Repräsentation, in der Bild, Objekt, Körper, Symbol, Schrift und Sprache austauschbar werden, fand nicht zuletzt ihren Ausdruck in der Entscheidung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, 2008 dem Maler Anselm Kiefer den Friedenspreis zu verleihen, der mit Begriffen und Namen durchsetzten Materialmassen und Substanzen auf Leinwände packt und damit Befindlichkeiten in Symbole bannt.

In der Umkehrung erlangen die zu symbolisierenden Gegenstände und Körper selbst Zeichencharakter. Das gilt für eine Reihe von Gemälden von Bahlke-Meisel  wie "Hand und Fuß" (2007) z.B., einer Spirale, an deren einem Ende ein Fuß und am anderen eine Hand sitzt und für "O.T." (2006), das Motiv zu dieser Ausstellung "Gesprächsfessel" -  die Spirale - die aus einem Topf/Maulkorb heraustritt und sich bis zum unteren Bildrand windet. Die Geste der beiden Arme, die unterhalb des Topfes/Maulkorbs hervorkommen und sich über der Spirale wölben, machen die Spirale zum Bild eines Kleides. Ein Körper existiert nicht, er ist eine Illusion, die durch die Anordnung von Zeichen und Farben entstanden ist. Er ist ein Bild, ein Phantasma, ein Massenphänomen, das vom Betrachter aus den gegebenen Bildinformationen zusammengesetzt wird.
Bärbel Bahlke-Meisel: Gesprächsfessel 2008 (Installation) *Julia Kristeva: Etrangers à nous-memes, Paris 1988. dt.:  Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990, S.202
** Freud, S.: "Das Unheimliche". In: Psychologische Schriften. Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982.
*** Ernst A. Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, 1906, in Psychiatrisch-neurologi- sche Wochenschrift, 8, S. 195-205.
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W. Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ges. Schriften, Frankfurt/M. 1980, Bd. I.1, S. 203-409, S. 382.
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