Der Ereignishorizont in der transferierten Fotografie
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In dieser Ausstellung mit dem Titel „EREIGNISHORIZONT“ begegnen wir „transferierte(r) Fotografie“, die als Druck vorliegt, der mit einer Kunststoffschicht überzogen ist. Die darauf sichtbar gebliebenen Pinselspuren binden das technische Medium Fotografie an eine traditionelle Kunstgattung. Weil der flüssige Kunststoff die Druckerfarbe bindet, kann alles Papier bis auf die an der polymeri- sierten Kunststoffschicht klebenden Oberfläche abgepellt werden. Das so transferierte Foto wird auf eine Plexiglasschicht gelegt,  an der es allein durch Adhäsion hängen bleibt. Diese Schichtungen von verschiedenen elastischen Materialien hinterlässt den Eindruck einer Haut, in die das Bild eingeschrieben ist. Es herhält den Charakter einer Trophäe, also eines Relikts, das, wie die Haut eines erlegten Tieres, an eine Jagdbeute erinnert. Dieser Aspekt wird durch die Verspannung der einzelnen Bildteile noch unterstrichen und legt den Rezipienten unterschwellig nahe, dass dieses Objekt der Wirklichkeit abgejagt wurde. Der Bremsvorgang, nämlich die zeitraubende Umschichtung, hat das Foto in ein Kunstwerk verwandelt, das schließlich als Trophäe präsentiert werden kann.

Das Problem der Fotografie ist ihre Präsentation, denn die Bilder aus diesem technischen oder dokumentarischen Medium müssen so bearbeitet werden, dass sie durch Inhalt, Materialität oder Installation in einem Kunstkontext wirksam werden. Was konventionell meist schon durch Rahmung erreicht wird, leistet hier die in einem handwerklichen Prozess entstandene Bildoberfläche, die das relativ schnell verfügbare Bild mit dem Material zu einem Objekt verbunden hat. Dadurch verschmelzen Objekt und Inhalt in einer Weise, die etwas Archaisches darin aufscheinen lässt, weil das Bild mehrere Zeitebenen in sich vereint:
-    die Vorzeit (Jagd)
-    der Zeit des Handwerks – Mittelalter – Technik der Übertragung
-    der Geschichte der Malerei (Pinselspuren)
-    das zeitgenössische Leben (Lichter eine Stadt)
-    das Medienzeitalter (Fotografie)

Der Rückgriff auf Archaisches ist ein Bremsvorgang, ja im Bezug auf die Aktualität einer Fotografie ist es ein Umkehrvorgang. Ich erinnere an „Schubumkehr“ das Performancefestival des EINSTELLUNGSRAUM im Sommer, dessen Titel an das Bremsen durch Veränderung des Vortriebs erinnerte. Hier bezieht sich dieser Vorgang auf die Vorgeschichte, die durch eine Richtungsänderung des Zeitvektors in die Gegenwart hineingetragen wird. Wenn ich aus der Sicht von Heute zurückschaue, wirkt es zunächst wie eine Beschleunigung, denn im
Laufe der Zeit werden immer mehr Ereignisse und Materialien zurückgelassen. Sie werden vergessen und vergehen, so dass man die Zeiten, je weiter sie zurück liegen, immer schneller überfliegen kann („Engel der Geschichte“, W. Benjamin)*. Bremsen und Beschleunigen stehen auch hier in einem dialektischen Verhältnis zu Zeit und Raum. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Deshalb spricht man in der Physik auch von negativer Beschleunigung, wenn man Bremsen meint. Diese Dynamik erfährt mit der Relativitätstheorie aus naturwissenschaftlicher Sicht eine zusätzliche Wendung. Steckhan bezieht sich in ihrem Statement zur Ausstellung darauf, wenn sie schreibt: „Je mehr die subjektive Beschleunigung steigt, desto langsamer fließt von außen betrachtet die Zeit, bis sie schließlich stillsteht.“ Das klingt gegenüber dem Gesagten zunächst paradox, denn angesprochen sind die Phänomene bis zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit, welche die Zeit still stehen lässt.


Der Stillstand in der Relativitätstheorie
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Diese im 20. Jahrhundert durch die Relativitätstheorie eingeführte Sicht hat zu einem Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Zeit geführt. Obwohl wir mit den von Menschenhand produzierten Fahrzeugen auch im Weltraum „nur“ relativ geringe Geschwindig- keiten erreichen können, übertrugen die Futuristen die Relati- vitätstheorie auf irdische Geschwindigkeiten von Motorfahrzeugen und schlossen daraus auf die bevorstehende Zerstörung von Zeit und Raum. Geltung erlangte die Lichtgeschwindigkeit allerdings auf immaterieller Ebene, wo sie seit dem 19. Jahrhundert in der Datenübermittlung durch die drahtlose Telegrafie genutzt wurde, welche die Grundlage der heutigen drahtlosen Kommunikationsnetze ist, in denen Informationen mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind. Auf diesem Sektor wird die Beherrschung der Lichtgeschwindigkeit, die als absolute Geschwindigkeit gilt, als göttliche Macht empfunden, weil sie potentiell eine simultane Gegenwart an verschiedenen Orten erlaubt. Sie ermöglicht die Reichweite der Sinne zu entgrenzen und somit den totalen Überblick über die Ereignisse auf der Welt, wobei im Stillstand der Zeit bei Lichtgeschwindigkeit die Unsterblichkeit liegt. Hier bekommt Bremsen eine vollkommen andere Bedeutung als in der Alltagserfahrung; denn im Bereich der Lichtgeschwindigkeit, in dem der Alterungsprozess gestoppt wird, würde jedes Bremsen die Rückkehr zur „Herrschaft der Vergänglichkeit“ (Statement Steckhan) bedeuten. Das heißt, dass das Wesen des Lebens wieder eingesetzt wird, dessen Unendlichkeit die Endlichkeit einzelner Lebewesen voraussetzt, weil im Sterben eine Bedingung für die Fortsetzung der biologischen Kette des Lebens gegeben ist.
* Walter Benjamin Gesammelte Schriften I, SuhrkampVerlag. Frankfurt am Main, 1974. Band 4: 1938-1940, S. 392-93
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
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