Dr. Thomas
Piesbergen Die horizontale und die vertikale Wirklichkeit Eröffnungsrede der Ausstellung Kreuzungen und andere Gebilde von Elke Suhr zum Jahresthema Autos fahren keine Treppen EINSTELLUNGSRAUM e.V., Hamburg 2011
Die
Automobilisierung ist im Laufe des 20.
Jahrhunderts lebensbestimmend geworden. Die
etablierten zweidimensionalen Bewegungsmuster
haben unsere Wahrnehmung und demzufolge unsere
Auffassung von Realität maßgeblich gestaltet.
Die Funktion des Autos ist das Davonstreben in der Fläche, das Verlassen des einen Ortes, um einen anderen zu erreichen. Doch werden durch die horizontale Bewegung von A nach B die beiden Orte nicht nur miteinander verbunden. Durch sie wird vor allem die Entfernung zwischen ihnen manifest. Die durch das Automobil determinierten, auf zwei Dimensionen reduzierten Bewegungsmuster formen zudem unsere Vorstellung von Ordnung und Regulation und dadurch unsere Wahrnehmung. Auf diesem Umweg ist das Automobil zum dominanten Faktor der Gestaltung des Lebensraums selbst geworden. Seine Funktionsweise etabliert Wahrnehmungsscha- blonen und verlangt spezifische Strukturen, denen sich die Lebensführung und unsere Weltwirklichkeit auf Gedeih und Verderb unterzuordnen hat. Es sind Systeme entstanden, die in der Kulturanthropologie als "strukturierende Strukturen" bezeichnet werden. Lebendige urbane und dörfliche Kontexte sind geprägt von Multifunktionalität, d.h. Konzen-tration verschiedenster Funktionen an einem Ort. Dazu gehört auch eine starke Durchmischung verschiedener sozialer und ökonomischer Gruppierungen. Im Zuge der Automobilisierung wurden diese multifunktionalen Kontexte zusehends auseinander gerissen. Amerika erlebte vor der Weltwirtschaftskrise einen wahren Bauboom, eine direkte Folge der Automobilisierung. Durch das Auto war es möglich, außerhalb der Stadt zu wohnen und |
dennoch im
Stadtzentrum zu arbeiten. Entsprechend wurden
an den Rändern der Großstädte idyllische
Einzelhaussiedlungen aus dem Boden gestampft.
Bauwirtschaft und Immobilien-spekulanten
setzten einen ideologisierenden Werbefeldzug
ohne gleichen in Kraft, der die wohlhabenden
Bürger aus den Stadtzentren weglocken sollte.
Dieser Trend, der sich bis heute fortsetzt,
hatte eine ganze Reihe von drastischen
Konsequenzen für die sozio-ökonomischen Gefüge
der Städte: die Verödung der Zentren, die
Konzentration von sozial schwächer gestellten
Gruppen, die räumliche Trennung von
Bevölkerungsteilen ver- schiedener Herkunft,
den Beginn der Slum-Bildung, die Verschärfung
sozio-ökonomischer Konflikte durch
Fragmentierung der Gesellschaft und
schließlich fortgesetzte Finanzkrisen
gewaltigen Ausmaßes durch
Immobilienspekulationen.
Ein in den deutschen Innenstädten seit langer Zeit besonders gut zu beobachtender Effekt dieser Entwicklung, ist der Tod des lokalen Einzelhandels zugunsten großer, spezialisierter, überregionaler Kaufhäuser und eine entsprechende Akkumulation von Kapital. In jüngster Zeit erleben wir außerdem eine Verdrängung sozial schwacher Gruppen aus den wieder attraktiv gewordenen Stadtzentren in leblose, durch den ÖPNV angebundene Trabantenstädte. Das Ergebnis dieses Siegeszuges der horizontalen Wirklichkeit sind die weitgehende Monofunktionalisierung des Lebensraums, also die Trennung von Wohnen, Konsumieren und Arbeiten, sowie die Trennung von sozialen und ethnischen Gruppen. Die Gemeinwesen, die ehemals trotz sozio - ökonomischer Hierarschisierung wenigstens eine räumliche Identität teilten, wurden nahezu vollständig zerschlagen. Denn die Straßen zwischen den sozial unterschiedlich markierten Stadtteilen und Wohnvierteln verbinden sie nicht nur miteinander, sondern sie definieren auch die Entfernung zwischen ihnen. Sie machen das "Hier, nicht dort" manifest und für jedermann erlebbar. Sie konkretisiert das Nicht-Zueinander-Gehören. Die Denkungsart, die von einem Leben in der horizontalen Wirklichkeit erzwungen wird, führt zu einer Fragmentierung des Lebens, zu einer Zerstörung des Gefühls einer Einheit des Lebensganzen.
Was bedeutet es hingegen, im Bewußtsein einer "vertikale Wirklichkeit" zu leben? |
Vernissage |
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Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg | |
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