Erst durch die Auslagerung der religiösen Zentren aus den Wohnhäusern in separierte Gebäude, die Tempel, entstanden regelrecht angelegte Straßen, die mehr waren, als nur unbebauter Raum im urbanen Kontext. Sie waren allerdings nicht primär als Transportwege gedacht. Es waren Zeremonialstraßen. In ihrem Fluchtpunkt lag ein Tempel oder später ein Palast. Häufig rekapitulierte ihre Anlage auch das Ordnungskreuz und repräsentierte so einmal mehr die kosmologisch bedingte Ordnung der Welt.

Selbst der Ursprung der griechischen und römischen Stadtpläne geht zurück einerseits auf das von Anaximander postulierte Gesetz der göttlicher Ordnung der Welt, die sich z.B. im Raster des Stadtplans von Milet niederschlug, andererseits auf die etruskische Weltordnung nach dem Kreuz mit den Achsen Cardo und Decumanus, die die Römer später übernahmen und tradierten.
Auch wenn diese Stadtpläne auf uns einen modernen Eindruck machen, haben sie in erster Instanz  einen kosmologisch-religiösen Hintergrund, der später auch im Sinne manifest gewordener Herrschaftsstrukturen reproduziert wurde, sie gehen aber weder auf unabhängige stadtplanerische Konzepte, noch auf infrastukturelle Überlegungen zurück.

Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches brachen die antiken Traditionen der Stadtplanung ab. Städte wuchsen wieder organisch und regellos. Von primärer Bedeutung waren die individuellen Häuser, nicht aber die Gesamtanlage oder das Straßen- und Wegenetz, was sich erneut den Gebäuden anpaßte.
Erst im Laufe der Renaissance kehrte das Raster als Planungswerkzeug zurück. Doch bereits in der Hochrenaissance bahnte sich mit William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs ein gänzlich anderes Verständnis der Städte an:

In einer immer rationaler werdenden Welt begann man das Gemeinwesen als eigenständigen Organismus zu begreifen. Den Straßen wurde die Bedeutung der Blutbahnen zugewiesen und damit erstmals eine zentrale Bedeutung für das Funktionieren der Städte. Sie galten von nun an als existentiell für die Versorgung der Städte und rückten in das Bedeutungszentrum der Stadtplanung. Mit diesem gedanklichen Schritt wurde eine Eskalation in Gang gesetzt, die durch den Automobilismus einen weiteren, entscheidenden Impuls erhielt, und die bis heute ungebremst anhält: Das Primat der Mobilität, das heute maßgeblich das Gesicht der Städte bestimmt.
Der Aspekt der Infrastruktur gilt meist als entscheidender Maßstab für die qualitative Bewertung von Wohnorten. Die Straßen folgen nicht den Häusern, die Häuser folgen den Straßen. Eines der berühmtesten Beispiele dieser hierarchischen Folge ist das New Yorker Flatiron Building. Es erhielt seine charakteristische Form nicht aufgrund einer spezifisch gestalterischen Absicht, sondern ausschließlich durch den Vorsatz einer vollständigen Ausnutzung des von Straßenverläufen vorgegebenen Baugrunds. Es ist in den Straßenverlauf eingepaßt.

Durch die Automobilisierung seit dem frühen 20. Jhd. wurden zudem die Bereiche des Wohnens, Arbeitens und Einkaufens immer mehr auseinander gerissen und der Mensch zu einer nahezu ununterbrochenen Raserei von einem Ort zum anderen verdammt. Straßen verbinden nicht mehr nur Orte, sondern machen auch ihre Entfernung voneinander kenntlich. Und je größer, je stärker befahren sie sind, desto mehr stellen sie auch Grenzen dar, die die linke Seite des Fahrdamms von der rechten trennen.

In dieser zirkulierenden, lärmenden Raserei steht das Haus noch immer still. Doch meist ist es nicht mehr der Ort der Einkehr. Durch die Auslagerung des Sakralen aus dem Bereich des Wohnens ist es profanisiert worden. Die spirituelle Praxis ist im modernen Haus und der modernen Wohnung nicht mehr vorgesehen. Zu ihrer Ausübung muß sich der Mensch einmal mehr dem Alltagsnomadismus überlassen. Zudem kolonisiert die immaterielle Seite der Raserei, der Lärm, nicht selten unsere Rückzugsräume in einem Umfang, daß die Aufmerksamkeit nur schwer nach Innen zu richten ist, da sie von aufreizenden akustischen Signalen immer zu dem Geschehen auf der Straße gezogen wird. Und damit nicht genug: der vormalige Ort der Ruhe wird durch die virtuelle Raserei der Massenmedien, in der sich das Primat der Mobilität und der Überwindung von Raum fortsetzt, während wir physisch eigentlich schon zum Stillstand gekommen sind, mehr und mehr zu einem Ort der Betäubung und Flucht in virtuelle Realitäten geworden. Das ehemals spirituell belegte Zentrum ist nicht nur leer geworden, sondern ausgelöscht.

Dieser lose umrissene Komplex ist Ausgangspunkt zahlreicher künstlerischer Ansatzpunkte von Elke Suhr, die sie gerne mit dem Konzept der petit perception von Leibniz vergleicht: intuitive gedankliche Impulse, die noch nicht zu einer bewußten und klar artikulierten Form gefunden haben, die Auslöser sind für ein sich Vorantasten und Nachspüren.

Vernissage
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