Der Ort der Stille und die Raserei - Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Elke Suhr: Das stille Stehen der Häuser" im EINSTELLUNGSRAUM, Hamburg.

Die Lebenswirklichkeit des Menschen ist entstanden und schreibt sich noch immer fort durch einen stetigen Prozess des Unterscheidens, durch das Festlegen und Verfeinern von Polaritäten. Zwar kennt der Mensch nicht nur das Ja oder Nein, sondern auch das Vielleicht, aber das Vielleicht wird ausschließlich konstituiert durch die Schwebe zwischen dem Ja und Nein, ohne die es sinnlos und unverständlich wäre.

Eine der grundlegendsten Unterscheidungen, die der Mensch treffen kann und die die Grundmuster eines jeden sozialen Gefüges bilden, besteht in den Kategorien „Drinnen“ und „Draußen“. Noch bevor diese Bezeichnung auf soziale Differenzierungen angewandt worden ist, diente sie dazu, den Ort des Menschen in der umgebenden Natur zu bestimmen und ihn davon abzugrenzen. Sicher gehört diese selbstreflexive Unterscheidung zu einem der entscheidenden Schritte auf dem Weg der Menschwerdung. Die Schutzhütte und später das Haus waren der gezähmte Bereich des Menschen, die Welt draußen war der Bereich der wilden, ungezähmten Natur.

Dem Gesetz der Form und dem Indikationen-Kalkül von John Spencer-Brown folgend, ist das „Draußen“ aber auch immer ein Teil des „Drinnen“, Teil des menschlichen Standpunktes, denn es kann nur dann erkannt und darauf hingedeutet werden, wenn es bereits vorher im „Drinnen“ als Konzept angelegt war. Diesen ersten Bruch der Symmetrie der Ganzheit fand Spencer-Brown hervorragend im Symbol des Yin und Yang dargestellt: das schwarze Yang enthält einen weißen Kreis, der farblich dem Yin entspricht, geometrisch der Ganzheit von Ying und Yang. Beim Yin verhält es sich entsprechend komplementär.
Dieser grundlegenden Bedingtheit der Unterscheidung folgend findet man in allen vormodernen Kulturen - und in Rudimenten auch in den industriellen und post-industriellen Kontexten - eine Analogie zwischen dem Haus und der Welt. Das Haus umschließt den Bereich des Menschlichen und grenzt ihn vom Außermenschlichen ab, repräsentiert aber gleichzeitig die Gesamtheit der Außenwelt, in deren Zentrum sich die Innenwelt befindet.
Im indonesischen Bereich wird das Wort „Banua“ z.B. nicht nur für das Wohnhaus gebraucht, sondern synonym auch für das Dorf, den Himmel oder die Welt. Auch in unserem kulturellen Kontext müssen wir nicht lange suchen, um auf Formulierungen wie „Himmelszelt“ oder „Das Dach der Welt“ zu stoßen, die auf eine solche Analogie schließen lassen.

Da sich die Lebenswirklichkeit vormoderner Kulturen vor allem durch religiöse Bedeutungsmuster konstituiert, und die Welt als von Geistern oder göttlichen Kräften geordnet und gelenkt verstanden wird, liegt es auf der Hand, daß das Haus gleichzeitig auch zu einer Repräsentation der göttlichen Ordnung der Welt wurde.
Das Haus war also nicht nur ein physischer Schutzort und ein Raum, in dem der Mensch seiner Sicht auf die Welt einen formalen Ausdruck gab, sondern auch der Ort, an dem er in Anschauung und im Nachvollzug dieser Ordnung mit den Kräften, die die Wirklichkeit beherrschten, in Kontakt trat, lange bevor diese Funktion schließlich in den Tempel ausgelagert wurde.

Das Haus ist also von Anbeginn der Kultur nicht nur ein Ort des Schutzes, sondern auch ein Ort der Anschauung und der Einkehr, der spirituellen Praxis gewesen.
Zudem wurde für die Anwesenheit des Göttlichen in fast allen Kulturen ein architektonischer Rahmen geschaffen, in der Regel ein Haus: der Tempel oder die Kirche. So lebten auch die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste zwar in Zelten, für die Bundeslade hingegen wurde die sog. Stiftshütte gebaut, über der eine Wolke schwebte, um die Anwesenheit JHWHs anzuzeigen.

Verfolgt man von diesem Punkt aus die Entwicklung menschlicher Siedlungen, wird deutlich, daß bis in die frühe Neuzeit einerseits die Bedeutung des individuellen Hauses und andererseits die Repräsentation kosmologischer und religiös motivierter Ordnungsprinzipien den Siedlungen ihre Strukturen gaben.

In den ersten stadtartigen Siedlungen des Nahen Ostens wurden die Häuser oft Wand an Wand gebaut und die Siedlungen so verdichtet, daß die Dächer als Wegenetz genutzt werden mußten. Regelrechte Wege wurden nicht angelegt. Wenn sie entstanden, dann nur als zufällige Verkettungen ungenutzter Flächen und ebenerdiger Wirtschaftsbereiche.


Vernissage
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