Einer dieser kleinen gedanklichen Impulse beschäftigt sich mit dem eben erwähnten Phänomen der Durchdringung des Raums durch den Lärm, den bereits der futuristische Maler Umberto Boccioni 1911 in seinem Bild „Der Lärm der Straße dringt ins Haus ein“ thematisierte.

Elke Suhr stellt Boccionis Bild in Dialog mit einem gestrickten Ausschnitt des Balkongeländers, über den sich die Rückenfigur Boccionis beugt. Die Farbe der Rückenfigur ist allerdings durch den imaginierten Lärm aus dem Haus ausgetrieben und Teil der Außenwelt geworden. Man sieht ihr gestricktes Blau jenseits des gestrickten
Geländers, dort, wo man in der Vorlage das Straßenpflaster und einzelne Figuren sieht. Auf einem Video dahinter verweben sich im Dialog mit dem gestrickten Material die sinnlosen Bewegungsvektoren der Automobile.

In mehreren Malereien greift Elke Suhr den Kontrast der Raserei und des ruhigen Verharrens der Häuser nahezu illustrativ auf. Wir sehen sorgfältig mit dem Pinsel nach Computerprojektionen gemalte Häuser, die als Vertikalen aus einer gespachtelten horizontalen Raserei heraus-ragen, in der sich alle Konturen und Formen aufgelöst haben.

In den Aquarellen erheben sich aus einer braunen, amorphen oder sinnlos ineinander verkeil- ten Umgebung Türme oder treppenartige Gebilde aus leuchtenden, geklärten Farben. Auf bedrückenden braunen Dächern liegen lichtgelbe Objekte, die den Anschein erwecken, als warteten sie auf den Aufstieg. Das Braun kann hier nicht nur als stellvertretend für die an der horizontalen Erde haftenden Kräfte gelesen werden, sondern auch für das gedankenlose Vermengen von Farben, als brauner „Palettendreck“, von dem sich die geklärten, reinen Farben in aufsteigender Folge gelöst haben. Die farbigen Türme und Objekte haben zwar weder Türen noch Fenster, scheinen aber selbst durchlässig, von ätherischer, geistiger Natur zu sein. Sie können nicht nur als die Orte der Einkehr und Kontemplation, sondern auch als der Prozess der Kontemplation selbst gelesen werden.


Auf den Zeichnungen Elke Suhrs stehen sich Punkt und Linie gegenüber: Die Linie als die nicht verharrende Bewegung, der Punkt als das bewußte Innehalten und Verweilen, und, denkt man sich die Linie auf der Horizontalen, der Punkt als Querschnitt eines aus der Horizontalen aufsteigenden Vektors, als Querschnitt der Weltachse, die den Aufstieg von der horizontalen diesseitigen Welt auf eine geistige Ebene ermöglicht.
Zentral sehen wir eine aus mehreren Elementen zusammengesetzte Arbeit: Vor einem Blatt mit den „Acht Rechtecken“ vom Malewitsch (1915) erheben sich zwei weiße aus Papier gefaltete Quader; leichte, fast immateriell wirkende Objekte, vor dem faktischen Zugriff auf ihre Stofflichkeit geschützt durch eine Glasvitrine, die rückwärtig gestützt wird durch einen verzogenen Backstein.
Zwei der Rechtecke des ausgebildeten technischen Zeichners und studierten Architekten Malewitsch werden zu Grundrissen umgedeutet und bringen Modelle, lediglich gedachte Häuser hervor. Hier imaginiert sich der Geist seinen eigenen Schutzraum.
Rückendeckung erhält er dabei von dem Backstein, der durch seine stark deformierte Ecke wirkt, als sei er selbst nur mit Müh und Not der horizontalen Raserei entkommen. Zwar wird er durch dieses Handicap nicht mehr selbst Bestandteil eines Hauses sein können, aber er stabilisiert, selbst in die Vertikale aufgerichtet, den zur Form aufgestiegenen Gedanken.

Richard Sennet, dessen Schriften das neuere Schaffen von Elke Suhr stark inspiriert haben, schreibt in „Fleisch und Stein“, wir Menschen lebten nur noch als Verbannte miteinander. Verbannt von dem Ort der Ruhe und Einkehr, verbannt aus dem Innenraum, aus dem Haus, das unsere Ordnung der Wirklichkeit repräsentiert und in dem wir mit den Kräften, die dieser Ordnung Ausdruck und Gestalt geben, in Kontakt treten können - nämlich mit uns selbst.

Ausstellungen wie die von Elke Suhr mit ihren künstlerischen petites perceptions können uns bei der Bewusstmachung dieser Verbannung und dem Versuch, sie zu überwinden, sehr hilfreich sein.



 ⓒ by Dr. phil. Thomas J. Piesbergen / VGWort, Dez. 2015


Vernissage
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