Verschmelzung käme. Ändert sich das Maß an Anziehungs- und Abstoßungskräften, das diese Formation in der Balance hielt, durch weitere Einflüsse, fällt die Formation auseinander. Es gibt also immer einen leeren, materielosen Raum dazwischen.

Auch die Steinhütte aus Feital/Portugal, die auf der Einladung abgebildet ist, bildet eine interessante Formation, zusam- mengetragen aus den Steinen, die aus dem harten Boden gepflügt wurden. Sie dienen den Hirten als Unterstand und Schutz in einer kargen und gebirgigen Landschaft. Spontan musste ich lachen, als ich darin die Leiter sah. Es kommt mir nicht so vor, als bräuchte man darin eine Leiter, höchstens um sich den Kopf zu stoßen.

Aber heute scheint der Tag der Leiter zu sein. Die Buddhisten feiern eines ihrer wichtigsten Feste: den Abstieg von Buddha Sakjamuni aus dem Bereich der 33 Götter, in dem er seine Mutter besuchte und drei Monate verweilte, um Belehrungen zu geben. In den Tempelbildern wird sein Abstieg immer mit einer Leiter sym- bolisiert. Metaphysisch, ikonographisch korrekt ist dort der Bereich der Götter, wie das christliche himmlische Paradies oben situiert, während die Schamanen auch schon mal in die Welt unter der unseren hinabsteigen.

Es sind Richtungsangaben, die wir „ver-stehen“ können, auf die wir uns geeinigt haben. Wo mag im Universum Osten sein? Wenn wir jetzt lernen würden, dass alles gleichzeitig und direkt vor unserer Nase wäre, bzw. gar nicht außerhalb von uns, dann wäre das wohl ein Quantensprung einerseits und wahrscheinlich gar kein Sprung andererseits.

Auch ein Sprung ist ein Riss. Was mag daran wohl so faszinierend sein? Wir ahnen, dass es immer die Risse und Sprünge sind, die uns im Leben verändern, unsere Entwicklung befördern, unsere Wahrnehmung zu Neuem, Anderem, vielleicht (noch) Unfassbarem hinlenkt. Diese Kunst ist also ein Riss.
Im preisgekrönten Buch „Im aufgerollten Horizont“ schreibt Doris Cordes-Vollert:
„Aber da ist dieser Riss im Raum, diese Trennlinie zum Nichts. Diese Spalte zwischen Himmel und Wasser. Der nicht vorhandene

Zwischenraum, der trotz seiner Nichtexistenz das einzig konkrete zwischen diesen amorphen Massen von Wassergischt und Wolkenregen ist.“ (S. 53)*

Ist da die Rede von dem Riss im Außen, im Gegensatz zu dem im Inneren, den ich zuvor meinte? Diese Trennlinie, die wir Horizont nennen, der unsere Sehnsüchte nach mehr Freiheit gleichermaßen mit unseren Ängsten davor vereint und doch so unerreichbar bleibt. Die Absurdität des Begriffes Linie und unser Festhalten an dieser Vorstellung tritt mit dem Begriff Horizont voll in Erschei- nung. Himmel und Erde werden linear getrennt.

Mir fällt das Bild ein, wie so oft auch im chinesischen „I Ging“, dem Buch der Wandlungen, erwähnt: der Berg spiegelt sich auf der glatten Oberfläche des Sees und alles ist in Harmonie. Auch hier sind die beiden Erscheinungen des Berges gleichzeitig da. Die Trennlinie spielt darin eigentlich kaum eine Rolle. Befindet sich etwa auf der anderen Seite des Horizonts die spiegelverkehrte Erscheinung all dessen, was hier ist - oder ist er nicht vielmehr eine Kugel, in der alles schon vorhanden ist?

„Ich hab‘s nicht so mit dem Fortschritt“, sagte Doris zu mir, und „der Unendlichkeit ausgesetzt, suche ich nach begreifbaren Größen.“ (aus: „Im aufgerollten Horizont“, S. 41) Kann man den Horizont mit einer Leiter erreichen? Nur, wenn man sie hinlegt, Doris‘ Vorschlag. Dann gelangen wir vielleicht hinüber auf die an- dere Seite durch den Passagenraum der Sprossenzwischen- räume. Wohin hinüber?

Das Leben ist wie ein Fluss - und wir sind mittendrin. Wie schön wäre es da, ans Ufer zu gelangen, um mal inne zu halten ohne festzuhalten. Nichts greifen, nur gewahr werden. Wie im Mantra des Herzsutra ausgesprochen (...). Das sich stetig Wandelnde in Ruhe zu betrachten, wäre das nicht ein Fortschritt - ein Schritt fort, von einem Ort in einen Zustand.

Danke Doris für Deine Inspiration!
Danke für‘s Zuhören.

Dr. Iris Simone Engelke, Hamburg, dr-engelke@gmx.de
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*Doris Cordes-Vollert: Im aufgerollten Horizont. Eine Berichterstattung.
Herausgeber:Jürgen Schweinebraden von Wichmann-Eichhor, EP-Verlag, 1998, 70 Seiten
ISBN/EAN:978-3-924540-24-1, Literaturförderpreis 1998 der Freien und Hansestadt Hamburg .

Die 10. Ausstellung im Jahresprojekt  Autos fahren keine Treppen  des EINSTELLUNGSRAUM e.V.

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Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg