Die Konstruktion des Unsichtbaren
Einführung zur Ausstellung von Peter Boué: SPUREN
von Dr. Thomas J. Piesbergen

In seinem Buch Schreiben - vom Leben der Texte1 konstatiert der Dichter Kurt Drawert, die Literatur beschäftige sich häufig mit dem "Unaussprechlichen". Diese Aussage erscheint zunächst wiedersinnig, denn wie sollte man mit der Sprache Dinge erfassen und zum Ausdruck bringen, die sich einer Versprachlichung widersetzen?

Um dieses Paradoxon zu entschlüsseln, ist es notwendig zu bestimmen, was mit dem "Unaussprechlichen" eigentlich gemeint ist. Drawert selbst liefert uns keine belastbare Defintion, sondern nennt es an anderer Stelle nur vage "das Unbewusste", auf das man nur durch poetische Symbole verweisen kann.
Lässt man jedoch den Blick über das weite Feld der Literatur schweifen, wird rasch klar, was Drawert mit dem "Unaussprechlichen" gemeint haben muss: es ist die sog. "Qualia", also der rein subjektive Inhalt der Erfahrung, die ihre eindrucksvollste Verbildlichung durch Marcel Prousts Biss in eine teegetränkte Madeleine erfahren hat. Die geschmackliche Sensation löste in Proust eine Kaskade der Erinnerung aus, die den Anstoß zu der Suche nach der verlorenen Zeit2 gab. Durch ein sensorisches Ereignis wid ein komplexer Zusammenhang von Erinnerungsbildern, körperlichen Empfindungen und Gefühlen geweckt, der jeder Wahrnehmung ein gegenwärtiges und einzigartiges Gepräge verleiht.

Die Einzigartigkeit der individuellen Qualia wird durch die vom Neurologen Antonio Damasio beschriebene besondere Eigenschaft der Gefühle gewährleistet, Erinnerungen zusammen zu fassen.Da unser Repertoire von Gefühlen zwar vielschichtig, aber begrenzt ist, werden deshalb oft Dinge mit denselben Gefühlen belegt, die zunächst disparat erscheinen, sich für uns aber gleich anfühlen. So können Verknüpfungen zwischen Dingen,  Vorgängen und Zuständen entstehen, die dem Logos zwar

rätselhaft bleiben, unserem Bewusstsein dennoch  einen poetischen Raum öffnen. Diesen Effekt können wir vor allem in unseren Träumen erleben, in denen Dinge in Zusammnhang gebracht und mit Atmosphären und Bedeutungen aufgeladen werden, die sich im Traum zwar richtig angefühlt haben, uns im wachen Zustand aber als unverständlich erscheinen, und deren zugrunde liegende Muster sich oft erst mittels einer Psychoanalyse enthüllen lassen.

In seinem umfangreichen Essay Gezeiten des Geistes4  verglich David Gelernter das Zustandekommen konsistenter Gedanken und innerer Bilder mit dem Übereinanderlegen von transparenten Bildfolien.
Erst wenn ein Kleinkind Dutzende oder Hunderte von Beobachtungen, die z.B. mit dem Begriff "Baum" etikettiert werden, aber niemals deckungsgleich sein können, über- einandergelegt hat, kann es aus all diesen sich überlagernden Eindrücken eine Schnittmenge lösen, die ihm in Zukunft ermöglich, das Wort "Baum" in einem für andere nachvollziehbaren Zusammenhang zu benutzen. Die Wiederholung einer Beobachtung lässt uns abstrahierte Muster erkennen, die das beobachtete Phänomen uns selbst begreiflich und anderen vermittelbar machen.

In seinem Werk Schöpferische Entwicklung5 von 1907 formuliert Henri Bergson dieses Phänomen der Wiederholung und Abstraktion wie folgt: "Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag."

Handelt es sich nicht um Beobachtungen konkreter Dinge, wie eines Baumes  oder eines Stuhles, die wir übereinanderlegen, sondern um Qualia, die wir versuchen in Deckung zu bringen, verfestigen sich deren
1 Kurt Drawert: Schreiben - Vom Leben der Texte C.H.Beck 2012  2 Marcel Proust: Auf der Suche anch der verlorenen Zeit, Bd.1, Combray Ausgabe, Suhrkamp, 19813 Antonio R.  Damasio: Der Spinoza-Effekt, List 2005
4  David Gelernter: Gezeiten des Geistes, Ullstein, 2016 5 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Coron Verlag, 1984
Der 08.Beitrag zum Jahresprogramm SPRIT  und SPIRIT des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2020
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Vernissage
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