In seiner Lehre vom Wesen (Wissenschaft der Logik) finden wir überraschenderweise das Pfeil-Paradoxon des Zenon wieder. Hegel interpretiert es auf eine geradezu revolutionäre Art:
„Es bewegt sich etwas nur, nicht in dem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern in dem es in ein und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist. Man muss den alten Dialektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen, aber daraus folgt nicht, dass darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr dass die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist 3.“  

Diese in der vorangegangenen Geistesgeschichte einmalige Äußerung blieb jedoch ohne Konsequenzen. Mit Hilfe der dialektischen Methode wurden weiterhin immer komplexere Modelle der Wirklichkeit entworfen, die sich immer unvereinbarer gegenüberstanden, bis die widerstreitenden wissenschaftlichen und politischen Ideologien im 20. Jahrhundert fast das Ende der Menschheit herbeiführten. Denn wenn es schon unmöglich war, sie synthetisch zu überwinden,  konnte ja nur das eine oder das andere Modell der Wirklichkeit wahr sein.

Doch am 14. Dezember 1900 ereignete sich abseits der philosophisch- politischen Grabenkriege einer der bedeutsamsten Paradigmenwechsel der Menschheitsgeschichte, dessen ganze Bedeutung  von den Geistes- und Kulturwissenschaften bis heute nur widerstrebend und zögerlich wahr- genommen wird.
An diesem 14. Dezember formulierte Max Planck eine theoretische Herleitung des Strahlungsgesetzes und entdeckte dabei die Konstante h, die später als Wirkungsquantum in die Wissenschaftsgeschichte eingehen sollte. Mit Plancks Postulat des Wirkungsquantums hatte nicht nur die Geburtsstunde der Quantenphysik geschlagen. Aufgrund ihrer Erkenntnis- se, die in der Folgezeit das Weltbild der Wissenschaft erschütterten, vollzog sich schließlich auch die Rehabilitation der Antinomie im Gewand der Komplementarität (Niels Bohr).
Denn die einander widersprechenden Beobachtungen der Quantenphysik konnten nicht, wie Einstein sich von der hypothetischen „verborgenen Variablen“ erhoffte, auf dialektischem Wege aufgelöst werden. Sie sind und bleiben „der daseiende Widerspruch selbst“ (Hegel).
Dem Pfeilparadoxon des Zenon begegnen wir in der Heisenberg´schen Unschärferelation wieder, die konstatiert, daß Ort und Impuls eines Elementarteilchens niemals gleichzeitig beobachtet werden können. Das Rosen-Podolsky-Einstein Experiment bewies nicht nur, daß das Licht zugleich Welle und Teilchen sein muß, obwohl beide Modelle sich gegenseitig ausschließen, sondern auch, daß zuvor undeterminierte Teilchen erst durch Beobachtung determiniert werden!
In der Nicht-Lokalität und Korrelation von Quanten müssen wir schließlich die Aufhebung der zeitlichen Linearität der Ursache-Wirkungsverkettung erkennen. Der Widerstreit der aristotelischen Causa Effizienz (Wirkungsursache) und der Causa Finalis (Zweckursache) ist irrelevant geworden, da ihr Nacheinander lediglich einer Bedingung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit entspringt. Ein Ereignis kann seine Ursache also gleich- zeitig in der Vergangenheit und in der Zukunft haben. Wenn ich eine Bahnfahrkarte in der Hand halte, liegt die Ursache dafür sowohl in Vergangenheit (die Wirkursache: Ich habe die richtige Anzahl von Münzen in den Automaten geworfen und den richtigen Knopf gedrückt), als auch in der Zukunft (Zweckursache: meine zukünftige Anwesenheit an einem anderen Ort macht den dann in der Vergangenheit liegenden Kauf einer entsprechenden Fahrkarte notwendig).

Die Rehabilitation der Antinomien stellt uns vor folgendes Problem: Um das ungeteilte Wesen und die Gesamtheit der Wirklichkeit zu erfassen, ist es notwendig, einander widersprechende Interpretationen der Wirklichkeit gleichberechtigt zuzulassen. In unserem Alltag gewährleisten unbewußte und hocheffiziente Organisationsprozesse, daß unser Erfahrungs-kontinuum kohärent bleibt, doch sobald wir versuchen, uns diesen widerstreitenden Versionen der Wirklichkeit mit dem Verstand zu nähern, wird es gefährlich.
Es muß zugleich Welle und Teilchen geben, auch wenn sie nicht gleichzeitig denkbar sind - beide sind meßbar. Es muß Individuum und Gesellschaft geben, Freiheit und Determination, auch wenn sie nicht gleichzeitig denkbar sind - sie sind alle unbestreitbar Teil unseres Erfahrungskontinuums.
In seiner Nobelpreisrede von 1922 faßte Niels Bohr dieses Problem mit wenigen
Worten zusammen: "Wer über die Quantentheorie nicht entsetzt ist, der hat sie nicht verstanden."
 Vernissage 3 Hegel, Georg W. Fr.: Phänomenologie des Geistes Band 6, Frankfurt a. M. 1979,
S. 64-80.: C. Der Widerspruch. ... daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist. ...

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