Doch wie kann der
menschliche Geist mit diesen Widersprüchen leben, ohne
den Verstand zu verlieren. Wie kann er damit umgehen
und wie kann er sich das Wissen um die
Gegensätzlichkeiten nutzbar machen? Hier leistet uns
überraschenderweise ein Geist aus dem 18. Jahrhundert
Hilfestellung: Friedrich Schiller. In seinen „Briefen
zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ entwickelte
er die erste Spieltheorie der Geistesgeschichte. Nach
Schiller sind die Triebfedern menschlichen Handelns
der pedantische „Formtrieb“ und der chaotische
„Stofftrieb“. Der einzig mögliche Ausgleich zwischen
diesen sich bekämpfenden Trieben, die bei einer
Vermengung zu gleichen Teilen lediglich in einem
unschöpferischen Elend münden würden, ist das Spiel.
Als tertium quid erlaubt es einen menschenwürdigen und
schöpferischen Umgang mit dem unvereinbar bleibenden
Widerspruch. Natürlich verstand Schiller unter diesem
Spiel in erster die Kunst, die im Kern aus dem Spiel
zwischen stofflicher Aneignung und formaler
Organisation besteht und sich wie kaum eine Äußerung
menschlichen Handelns dazu eignet, auch inhaltlich mit
Widersprüchen zu operieren.
„Da kommen plötzlich Dinge im Kopf zusammen, die sonst nicht zusammengehören.“ Dieser zuerst so lapidar anmutende Satz Carsten Bengers, mit dem unsere gedankliche Exkursion ihren Anfang nahm, erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. Er ermöglicht einen unerwarteten und anderen Zugang zu den Arbeiten der beiden Künstler. Um eine sperrige und schwer faßliche Wirklichkeit abzutasten, fügen Yann-Vari Schubert und Carsten Benger gegensätzlicher Dinge zusammen - in Form eines Spiels mit Bedeutungsebenen, Authentizität, Zeitlichkeit und Ort. Carsten Bengers Wandarbeit „The Object That No One Pays Attention To“ besteht aus einem kaum wahrnehmbaren, refliefierten Schriftzug desselben Wortlauts auf einer weißen Wand. Hier stehen sich in spielerischer Unvereinbarkeit die Konzepte von Bild und Bildhintergrund, Werk und Werktitel gegenüber. Die weiße Wand, die üblicherweise die explizite Konnotation der „Nicht-Kunst“ hat die notwendig ist, um durch |
Abgrenzung von ihr die
Kunst überhaupt zu konstituieren, wird plötzlich durch
die darin eingefügten Zeichen zum eigentlichen Objekt.
Die Arbeit „6 966 753, 6855 €“ besteht aus mehreren Glasrahmen, in denen die titelgebende Zahl und die Ausdrucke mehrerer "Gewinnbenachrich- tigungen“ zu sehen sind. Die Zahl stellt den enormen, virtuellen Gewinn dar, den C. Benger bei angeblichen Internetlotterien gemacht hat. Ihr gegenübergestellt ist die faktische Nicht-Existenz des Gewinns, die offensichtlich betrügerische Absicht und die fragwürdige Qualität der Spam-E-Mails. Die hypothetische Existenz und die faktische Nicht-Existenz des Geldes müssen beide gedacht werden, um das Phänomen in seiner Ganzheit zu erfassen. In einer der unbetitelten Arbeiten Yann-Vari Schuberts ist einer intentionell zerstörten Glasscheibe eine nahezu identische Kunststoffimitation gegenübergestellt. Hier konkurriert die in der Vergangenheit verwurzelte Causa Effizienz, die kinetisch herbeigeführte Zerstörung, die sich im Bruchteil einer Sekunde abgespielt hat, mit einem absichtsvollen und zeitaufwendigen Herstellungsprozess, mit einer in der Zukunft liegenden Causa Finalis. Beide Vorgänge, die kaum verschiedenartiger sein könnten, zeitigen Ergebnisse, die nicht voneinander zu unterscheiden sind. Trotzdem verändert das Wissen um ihre jeweilige Entstehung die Wahrnehmung der beiden Objekte auf frappierende Weise. Schließlich steht der Besucher vor einem Bildschirm mit integrierter Kamera, die auf ihn gerichtet ist. Schubert inszeniert eine Konstellation, die gedacht ist, Fakten zu dokumentieren, in diesem Fall sogar ein Faktum, das von dem Betrachter als unanfechtbar angesehen wird: Der eigene Körper am derzeitigen Standort. Doch dieser Ort entpuppt sich als ein rätselhafter Un-Ort. Der Betrachter findet sich auf dem Monitor lediglich in einer unscharfen Reflektion auf einer Wasseroberfläche wieder, von der er nicht weiß, wo sie sich befindet, die selbst aber viel realer wirkt, als das Bild, das sich auf ihr spiegelt. Die absolute Gewissheit wird dem Zweifelhaften, dem Nicht-Fasslichen gegenübergestellt. Eine Bestätigung der vom Betrachter als „eindeutig“ konzeptualisierten Realität findet nicht statt. |
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