auf die Künstlerin aus. Plötzlich lässt sich jeder Moment spontan und fast ohne Limitierung festhalten. Jede Aufnahme wird gemeinsam mit sämtlichen technischen Daten des Aufnahmemoments automatisch gespeichert und ist jeder Zeit abrufbar. Aber nicht nur das, auch Bilder von Freunden und Familie können in Echtzeit gegenseitige Einblicke in das Leben des jeweils anderen gewähren, unabhängig vom eigenen Aufenthaltsort – Whatsapp sei Dank. Aus diesem Moment des Dazwischen-Seins, zwischen Argentinien und Deutschland einerseits und zwischen real, analog und digital, online andererseits, sind die Arbeiten der Ausstellung Zoom entstanden.
Über neun Monate hinweg sammelte Welling insgesamt 2057 Handyfotos, die in Buenos Aires, Hamburg oder an nicht registrierten „Offline-Orten“, wie dem Flugzeug, entstanden sind. Sie benannte jedes Bild mit einem Titel, der ihre persönlichen Erinnerungen und Erlebnisse dokumentierte. Dann wählte sie für jeden Tag ein Foto aus, das sie selbst gemacht hatte oder geschickt bekam und das sie in irgendeiner Weise berührte. Intuitiv bestimmte sie innerhalb des jeweiligen Fotos einen 24 Pixel großen Punkt und schnitt diesen Zoom digital aus, um die ausgesuchten Pixel zu einer neuen Form zu formatieren und sie entwickeln zu lassen. Anschließend wurden die einzelnen Pixel nochmals manuell ausgeschnitten und auf das Papier übertragen. Die so entstandenen Collagen zeigen also einen ganz privaten Moment aus dem Leben der Künstlerin. Was genau sie veranlasste diesen einen Fleck des Bildes zu wählen, kann sie selbst nicht wirklich bestimmen. Roland Barthes nennt diesen bestechenden Moment einer Fotografie das punctum. In seinem Aufsatz Die helle Kammer definiert er dieses folgendermaßen:
„punctum, das meint auch. Strich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photografie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ 1 Etwas also, das ganz individuell aus dem Bild zum Betrachter spricht und etwas in ihm berührt – ebenso wie die 24 Pixel für Welling. Zudem manifestiert sich in einem solchen punctum für Barthes die absolute Gleichwertigkeit von Zeit, was bedeutet, dass das Gestern genauso im Foto präsent ist wie das Heute und Morgen. Ein Aspekt, der für Wellings Arbeit ebenfalls von großer Bedeutung ist, denn jede Collage basiert auf Fotos und Erfahrungen aus der privaten, bereits abgeschlossenen Erinnerung der Künstlerin, die im aktuellen Moment des Betrachtens individuell zu etwas Neuem transformiert und auch zukünftig neue, andere Erinnerungen konstruieren wird. Gestern, heute und morgen bedingen sich in Wellings Arbeit also nicht nur gegenseitig, sondern werden simultan erfahrbar.
So subjektiv und individuell der Inhalt des Fotos, der Grund der Auswahl der 24 Pixel und die damit verknüpfte Erinnerung auch sind, so universell werden sie in der Transformation der abstrakten Collagen. Wie bereits erläutert, sind die Pixel-Collagen mit dem entsprechenden Namen der ursprünglichen Fotodatei betitelt. Einst als Orientierungsmarken der eigenen Erinnerungen gedacht, werden sie als Teil der Collagen nun zu potentiellen Erinnerung von Jedem. Einige Titel wie IMG_MuffinFace.JPG oder IMG_EinHundInZweiTeilen.JPG bleiben rätselhaft und laden zum Fantasieren ein. Andere wiederum wie IMG_AufPizzaWarten.JPG oder IMG_MeinFinger_SehrDicht.JPG sind so allgemein, dass jeder von uns so schon erlebt hat oder haben könnte. Auf diese Weise schaffen die Arbeiten einen Raum, der Fiktion und reale Erinnerung, Eigenes und Fremdes, Subjektives und Kollektives mit einander verschmelzen lässt.

Dem, so könnte man meinen, stehen die Datei-Informationen entgegen, die jeder Collage auf der Rückseite beigefügt sind. Darin sind das Datum, die Uhrzeit, die GPS-Koordinaten sowie sämtliche technischen Details der einstigen Fotografie aufgelistet, sodass man meinen könnte, das Eigene könnte nie ganz das Fremde werden oder anders herum. Jedoch sind diese Daten für den Betrachter – wie bei den digitalen Bilddateien – nicht ohne weiteres sichtbar und, selbst wenn sie offenbar werden, unübersichtlich durch die Menge der kryptischen Abkürzungen. Diese mehrheitlich unsichtbare Zusatzinformation fungiert also gewissermaßen analog wie digital nur als gespeicherte Datenmenge, die jedoch der Illusion oder Imagination des Betrachters kein Hindernis darstellt. Das Bild eines saftigen Steaks in der Onlinewerbung oder dem Facebook-Profil eines Unbekannten, könnte genauso auf meinem Handy sein oder meine persönlichen Erinnerungen an den Anblick dieses Motives wecken, wie auch die Titel der Collagen meine persönlichen Vorstellungen und Erinnerungen aktivieren – unabhängig davon, ob die GPS-Daten einem Ort entsprechen, an dem ich bereits einmal war. (IMG_EinWeiteresSteak-Foto.JPG)

Dieser transformative Prozess, in dem die Erinnerungen der Künstlerin in fremde übergehen oder sich mit diesen vermengen, wird als expliziter Teil des Gesamtkonzeptes in Form des Filmes aufgegeriffen.
1  Barthes 1985, S.36
Vernissage
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Bezirk Wandsbek und VG-Bildkunst, Bonn
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