Flugapparaten und dafür benötigtem GURTZEUG wussten. Marc Aurel, der römisch christ-
liche Kaiser empfiehlt den Blick von ganz oben, wie aus dem Kosmos, als Übung in der „philosophischen Lebenskunst“, um „die wahre Proportion der Dinge“ einschätzen zu können.  – D.h. vielleicht, um die blinden Flecken des eigenen Sichtfelds so klein wie möglich werden zu lassen.
Doch wie gelangt man nun dort hin, in die ungewohnten, luftigen Höhen, ohne Netz und doppelten Boden, auch wenn es sich nur um eine Metapher handelt, um einen Vergleich, für das Einnehmen einer Perspektive aus der größtmöglichen Distanz, nein, nicht eine x-beliebige Entfernung, diese könnte ja auch horizontal sein, aber aus der horizontalen Entfernung lässt sich nichts mehr erkennen, vielmehr scheint alles zu verschwinden. Ein Vorteil also der horizontalen Distanz, sie lässt alles verschwinden, wenn es nur weit genug entfernt ist. „Aus den Augen aus dem Sinn“. Die horizontale Welterfahrung also reicht nicht weiter als das Auge, aber darum geht es Marc Aurel und auch der Künstlerin nicht, es geht nicht darum, zu verschwinden in der Entfernung eines Horizontes, sondern es geht um den Blick von oben, aus der Vogelperspektive.

Wie ist es also um das Einnehmen dieser Perspektive bestellt? Wie gelangt man dorthin? Was ist das Werkzeug, die Methode? Welcher Apparat ermöglicht uns denn den Blick von oben auf die Landschaft, von der wir selbst ein Teil sind, die sich erstreckt, wie unsere Arme, unterlegt von den blinden Flecken unseres Gesichtsfeldes? Für manche ist  die Mondlandung nur deshalb von so großer Bedeutung, weil sie es dem Menschen ermöglichte, seine Welt, die Erde, zum ersten Mal aus dem All zu sehen, ein Blick wie von außen.

Doch wer oder was bestimmt eigentlich, was die „wahre Proportion der Dinge“ ist? Wer oder was gibt den Maßstab vor, nach dem die Dinge ihrer „wahren Größe“ nach beurteilt werden sollen? Alles wird verschwindend gering, verliert seine Bedeutung, ohne dabei doch ganz aus den Augen zu verschwinden, wenn der Abstand nur groß genug ist. Wer sagt, dass die Perspektive von oben auf diejenigen Dinge, inmitten derer wir uns sonst bewegen, auf Augenhöhe, die „richtige“ ist? Also doch eine Weltflucht, eine Flucht aus der Welt ins All, zu den Sternen, weg von der Schwere der Erde? Die Gefahr besteht durchaus. So jedenfalls sieht es Hannah Arendt, und sie hat dabei die naturwissenschaftliche Perspektive im Sinn, die sich seit der Kopernikanischen Wende im 17. Jahrhundert durchgesetzt hat, als Galileo entdeckte, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Arendt schreibt:
„… als sei der Wunsch, die Welt aus den Angeln zu heben, nur gewährt worden unter der Bedingung eines radikalen Welt- und Wirklichkeits-verlustes, … Denn was immer heute in der Physik geschieht - ... – immer handelt es sich darum, daß die Natur von einem Standpunkt im Universum außerhalb der Erde gehandhabt wird. Ohne wirklich auf dem Punkt zu stehen, nach dem es Archimedes so verlangte … , noch an die Erde gebunden und die Bedingungen, unter denen Menschen das Leben gegeben ist, haben wir doch einen Weg gefunden, auf Erden und inmitten ihrer Natur zu schalten, als verfügten wir über sie von außen, als hätten wir den archimedischen Punkt gefunden.“ 3
Ihr Punkt ist, dass es gefährlich ist für Menschen, so zu tun, als könnten sie die ihnen eigene Perspektive, die sich orientiert an der Einheit einer Armlänge und den blinden Flecken auf dem Gesichtsfeld, eintauschen gegen einen Standpunkt aus dem All; denn diese Perspek- tive, die eigentlich nicht die menschliche ist, führt letztlich dazu, dass die Menschen gegen ihre eigenen Interessen handeln und sich am Ende selbst abschaffen.
Arendt fährt fort: 

„Und selbst auf das Risiko hin, das organische Leben der Natur zu gefährden, setzen wir die Erde den kosmischen Kräften des Universums aus, die im Haushalt der Natur unbekannt sind.“ 4
Aber darum geht es Waltraut Kiessner in ihren Arbeiten gar nicht, um eine Flucht aus der Welt. Im Gegenteil macht sie, zumindest in den beiden Bildserien, die auf das GURTZEUG zulaufen, ausdrücklich auf die Gefahren aufmerksam, die in dem Einnehmen einer Perspektive in luftiger Höhe lauern: Was, wenn man sich nicht mehr auf das GURTZEUG verlassen kann, oder es einfach abstreift? Droht dann unweigerlich, wie es am Ende der Bildserie der Fall zu sein scheint, der Sturz ins Bodenlose oder gar Unendliche?
Dann kommt es leicht zu einer „unerwünschten Komplikation“. Schon Platon war sich bewusst, dass auch der Philosoph, der der Höhle entkommen ist, in der seine Mitmenschen
die Schatten der Gegenstände mit den Gegenständen selbst verwechselten, ohne es zu ahnen oder ahnen zu wollen, denn auch sie glaubten eben nur das, was sie glauben wollten, aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit; auch der Philosoph also, der den Aufstieg aus der
 3 Hannah Arendt, Vita activa, 2016, S.333-4. 4 Hannah Arendt, Vita activa, 2016, S.334.
Die 08. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
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