Waltraut Kiessner – Unerwünschte Komplikation
Einführungsrede 24.10.2019 von Dr. Sonja Schierbaum

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
sicher, mit Sicherheit, sind Sie sich da ganz sicher? Oder sind Sie auf der Suche, nach Gewissheit, wenigstens einer einzigen, damit es Sie nicht kalt erwischt, plötzlich, wie in einer Kurve, in einem der öffentlichen Verkehrsmittel, und Sie unwillkürlich greifen nach einer der dafür vorgesehenen Vorrichtungen, an denen Sie sich festhalten sollen, bei unvorhergesehenen Ereignissen, Bremsvorgängen, die heftiger ausfallen als geplant, so eine Art von Gewissheit? Eine Gewissheit nach Art einer Sicherheitsvorkehrung. Doch wohl nicht ganz, das wäre wohl etwas zu wenig. Eher: Eine Gewissheit, nach Art eines unerschütterlichen Grundsatzes, einem Fundament wie aus Beton, nur ewig, wie die Wahrheiten der Mathematik oder des Glaubens. Aber da wären Sie bei mir wirklich an die falsche Adresse geraten, das tut mir leid, das überschreitet meine Kompetenz, die Gewissheit in Glaubenssachen liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich; schon Augustin sagt, der Mensch ist zwar zu vielem fähig, auch ohne es zu wollen, glauben aber kann der Mensch nur, wenn er auch will.1
Wie wollen Sie es denn anfangen, zu glauben? Glauben Sie etwa, Sie könnten einfach so anfangen, irgendetwas zu glauben? Was haben Sie denn mitgebracht, oder kommen Sie am Ende mit leeren Händen hierher, in den EINSTELLUNGSRAUM? Immerhin haben Sie Hände, die Sie ausstrecken können, als „Werkzeuge der Welterfassung“, wie die Künstlerin Waltraut Kiessner sie treffend nennt. Es geht also nicht darum, was Sie in den Händen halten, sondern um die Hände selbst, als Tastinstrumente, sehen Sie? Den ausgestreckten Arm, die Hand, als eine Art von Triptychon, aber ohne religiöse Bedeutung. Dieser begegnet Ihnen gleich, wenn Sie eintreten, in den EINSTEL-LUNGSRAUM. Darauf fällt Ihr Blick als erstes, auf einen ausgestreckten, aber nicht angespannten Arm, die Streckung ohne totale Anspannung, eher eine Ausdehnung, wie eine Landschaft, die sich ausdehnt, ohne Zwang, bis sie sich aufzulösen scheint, ohne Horizont, eher eine Leerstelle, die bleibt, ein weißer Fleck auf der Landkarte, waren Sie schon einmal dort, an einem solchen blinden Fleck oder tragen Sie ihn am Ende mit sich herum, in Ihrem Gesichtsfeld. Die große, die allzu große Nähe macht Sie blind. 
Ein Arm also wie eine Landschaft, mit ausgestreckter Hand, in der sie sich sammeln kann, die Erfahrung, kondensieren kann, in der Art von Tropfen. Indem Sie also auf Wander-schaft gehen, eignen Sie sich die Welt an, mit ausgestreckten Armen und Händen, die weißen Flecken setzen Sie gleich selbst in die Landschaft. Wenn Sie die Hände immer nur in Ihren Taschen halten, geballt vielleicht vor unterdrückter Wut oder weil Sie nach Ihrem Schlüssel tasten, aus Angst, ihn zu verlieren, dann sind sie nutzlos, dann werden Ihre Hände Ihnen nicht nützen können, um Ihnen die Welt zu erschließen. So viel Unsicherheit muss sein. Wenigstens ab und zu.
Aber wie weit reicht Ihre Erfahrung, wenn Ihre Armlänge nicht einmal die Spannweite eines ausgewachsenen Uhus erreicht? Was das nun wieder soll, fragen Sie sich. Was haben Arme mit Flügeln gemeinsam? Otto Lilienthal hat nicht umsonst 1893 einen Flügelschlagapparat erbaut, der eine Spannweite von 6,85 m und ein Gewicht von 22 kg hatte. Ein Hilfsmittel für Ihr Werkzeug der Weltaneignung. Dabei ist der Traum vom Fliegen nicht nur ein Selbstzweck, fliegen um des Fliegens Willen, sondern vor allem auch ein Mittel zum Zweck, um nämlich eine ungewohnte Höhe zu erreichen, die schwindel-erregend ist und beängstigend, die Sie den Boden unter den Füßen verlieren lässt, buchstäblich, und damit auch das bisschen Sicherheit oder gar Gewissheit, das Sie zu haben glauben. Daran sind Ihre Füße nicht gewohnt, an die Luft, als einzige Stütze, wer kann schon sagen, wie die Dichterin Hilde Domin, „ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug“.2
Darum verlangt es Sie wieder einmal nach einer Sicherheitsvorkehrung, die Sie schützen soll vor dem Sturz aus der Höhe, für die Sie nicht gemacht sind, Ihr Körper und Ihr Geist, sie sind von einer Schwere, die die Gravitation braucht, eine Erdenschwere, die
Sie teilen mit allen anderen Bewohnern dieser Welt. Dennoch, was den Menschen oben halten soll, obwohl er dort eigentlich nicht hingehört, das nennt sich GURTZEUG, um einen Fachterminus zu gebrauchen. Das GURTZEUG allerdings setzt voraus, dass es irgendetwas gibt, woran es befestigt ist, einen Flugapparat etwa oder einen Kran mit einer kosmischen Reichweite.
Was aber wäre ein geistiges GURTZEUG? Eines, das einen davor bewahrt, die Fassung zu verlieren ob der neuartigen Perspektive eines Beobachters aus dem All? Dabei handelt es sich um eine wahrhaft philosophische Übung, schon bei den Stoikern, die nichts von

1 Augustinus, Tract. In Ioannem, tr. 26, c.2 (PL 35, 1607; CCSL 36, 260). „Et quantum ad tale complexum potest intelligi dictum Augustini, ubi dicit quod cetera potest homo nolens, credere autem non potest nisi volens.“ Ockham, Quaest. Var., q. V, (OTh VIII, 188). 2 Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Motto des Gedichtbandes „Nur eine Rose als Stütze“, Frankfurt/ M. 1991, S.110 (nicht paginiert).
Die 08. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
back
next
Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek