EINSTELLUNGSRAUM
Rede von Hajo Schiff zur Ausstellungseröffnung 
am 02.Juli 2001

Elke Suhr, Claudia Hoffmann, Sonia Jakuschewa, Llaura I. Sünner zur Einführung von Prof. emeritus Jan Jürgen Vogeler
 

**Dieser Abend ist in seiner sich spontan schwer vermittelnden Disperatheit ein einigermaßen kühnes Unterfangen.  Denn es geht hier nicht nur um das Werk von einer, einem oder mehreren Künstlem, sondern in vier Kapiteln um den theoretischen Hintergrund, der der heute gewählten Kombination von künstlerischen und politischen Ansätzen zugrunde liegt:
(1.) Der Ort,
(2.) Die Künstlerinnen,
(3.) Der programmatische Ausstellungstitel und
(4.) Die Person des Ehrengastes Prof. Jan Vogeler.

* Zum 1.: Dieser Ort ist ein ehemaliger Blumenladen, in dem nun gerade die zweite Ausstellung eröffnet wird.  Die Künstlerin Elke Suhr hat die Räume angemietet und in den „Einstellungsraum für Kunst im Straßenverkehr" verwandelt.  Sie gibt ihrem Projekt dazu noch den Untertitel „Agentur zur Vermittlung von Projekten zwischen Autofahrern und Fußgängern“.  Das ist nun keineswegs so klar, wie es einfach klingt.  Tatsache ist, dass Elke Suhr seit Jahren künstlerisch-kritisch über die ebenso offenbare wie uneingestandene, kulturelle Leitfunktion des Automobils in unserer Gesellschaft arbeitet.  Sie hat dabei sogar eine formale Ähnlichkeit von philosophisch-mystisch-allchemischen Weltmodellen und dem Benzschen Motorwagen festgestellt -jedenfalls dann, wenn man diesen senkrecht stellt.  Extrem verkürzt gesagt, ergibt sich der Vergleich durch den zentralen Menschen, der unter sich bzw. hinter sich den feurigen Höllenofen (also den Motor) hat und vor sich das lichtvolle Versprechen des Paradieses, der Erkenntnis der abstrakten Ideen, der Archetypen, ja des Gottes selbst (also die Scheinwerfer und den Ausblick durch die Windschutzscheibe).  Das Auto wird Teil der Bewegung von der Materie zum Geist; der nur scheinbar profane Transport ist die Sehnsucht nach Läuterung im Licht und zur Transfomiation im Unendlichen.  Diese Parallelisierungen sind relativ kompliziert und können hier nicht im Detail nachvollzogen werden. 
Aber schon 1964 hat kein geringerer als Roland Barthes das Auto als „genaues Äquivalent der großen gotischen Kathedralen“ bezeichnet.

*    Die grundlegende Idee, dass das Automobil die große Freiheit gibt, in jede Richtung, vor allem aber hinter dem Horizont, ist in dem Überziehen der Landschaft mit Autobahnen und dem Vollstellen der Städte mit Automobilen zur bloßen Potentialität erstarrt.  Das Auto wurde so ein Medium: Es dient immer weniger der Mobilität, es ist eine allegorische Plastik geworden, die Mobilität bedeutet.  Besonders die amerikanische Künstlergruppe „Ant Farm“ hat mit spektakulären Aktionen schon seit den Siebziger Jahren darauf hingewiesen, auch Wolf Vostells auf einen Kölner Parkplatz einbetoniertes oder auf den Kirch-turm verpflanztes Auto haben das thematisiert - und hier, im Keller, zeigt Elke Suhr mit dem Video des sich auf der Stelle drehenden Rades solche Bewegungspotentialität geradezu ikonenhaft.

*  Massenhafte Autosucht macht den Wortbestandteil SELBST (den AUTO ja schließlich bedeutet) obsolet - außer vielleicht in dem Sinne, dass ich am Ende der Jagd nach dem Horizont hinter dem Horizont, von hinten bei mir selbst wieder ankomme.  Statt allesamt zu einem Deus ex machina zu werden, wurden wir bloß zu einem Diabolus in machina.  Wir alle wissen das, aber kaum jemand mag daraus etwas folgern.  Draußen am Beispiel der Wandsbeker Chaussee ist leibhaftig zu erleben, in welch ungeheuerlicher Weise die Automobilität den öffentlichen Raum verändert hat.  Welch' dramatischer Verlust das ist und dass das keineswegs zwingend so kommen musste und sein muss, merkt spätestens jeder, der sich einige Zeit in Venedig aufgehalten hat.  Doch vielleicht ergibt sich ein Wandel, der nicht unbedingt der individuellen Einsicht, sondern der zweiten industriellen Revolution zuverdanken ist: Inzwischen stecken wir ja nicht nur im Stau, sondern auch in einem Wandel: Die am meisten angestarrte Glasscheibe dürfte inzwischen nicht mehr die Windschutzscheibe, sondern der Bildschirm sein.

*   Zum 2.: Die Künstlerinnen.  Die Arbeiten von Elke Suhr sind eng mit dem Konzept dieses Raumes verbunden, das wurde schon im ersten Kapitel angedeutet.  Erwähnt muss noch werden, dass auch der Vorhang mit dem schwebenden Tisch dazugehört.  Geht man hier vom Material aus, ist die trotzige Ironie zu bedenken, derer es beispielsweise für Anwohner einer Straße wie der Wandsbecker Chaussee da draußen bedarf, auf die eigentlich die Außenwelt ausblendenden Vorhänge auch noch Autos zu drucken.  Erinnert sei aber auch an die Geschichte der Malerei: Oft bedeutet ein gemalter Vorhang die Trennung zwischen der Realität und der Vorstellung oder des Irdischen vom Göttlichen - und oft schauen die Engel selbst über einen solchen Vorhang oder halten ihn zwecks besserer Einblicke auf. 

* Wie kommen nun die anderen Künstlerinnen, Claudia Hoffmann, Llaura Sünner und Sonia Jakuschewa zum Projekt? Es sei ehrlich gesagt - es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang.  Man könnte - und das wird anhand des Titels „Short Stories auf der Heide“ noch zu zeigen sein - gewiss sagen, es gäbe ohnehin in Kunst und Gesellschaft keine größeren Zusammenhänge mehr - außer vielleicht die Verbindlichkeit der Verkehrsregeln.  Doch es kann ja nicht schaden, GRENZMARKEN, ACHSEN und LIEBESBRIEFE (so die Untertitel dieser Ausstellungsbeteiligungen) unter dem Gesichtspunkt des Verkehrs zu betrachten.  Dann nämlich vermeint man in den Bildern der Claudia Hoffmann wellenförmige Wege durch eine nicht näher definierte Hügellandschaft zu erkennen.  Die Hamburger Malerin, Zeichnerin und Plastikerin mit einer Vorliebe für Beton hat nun die Negativformen dieser Wege zu Plastiken erhoben und diese zusammengesetzt, so dass etwas entstanden ist, was entweder eine Blüte oder ein versteinertes Feuerrad sein kann.  Dazu hat sie das Betonwerk zusätzlich dynamisiert indem der eigentlich für Festigkeit sorgende Sockel mit Rollen ausgestattet ist.

*  Die kachelartigen Kleinbilder Llaura  I.  Sünners sind konkrete Wegemarken auf der Spurensuche nach einer Geschichte.  Das Auge wird mit Proviant auf die Reise geschickt und trifft all das, was sich der fahrenden Erfahrung widersetzt: fremde Tierspuren, filigrane Pflanzen oder massive Festungen, jedenfalls deren Grundrisse.  Und auch die mit plastischen Formen besetzten Filzrollen sind seltsam transitorische Elemente mit zumindest einem paradoxen Effekt: Würde man sie entknoten und zulassen, dass sie real mehr Raum einnähmen, wäre ihr plastisches Wirkpotential weit geringer. 
(Sowie die durch das Auto real erreichte Ferne sich als weniger intensiv herausstellt, wie die bloße Vorstellung davon .... )

*  Auch wenn es nahe am Kalauer ist - auch der Briefverkehr ist eine Form des Verkehrs.  Jedenfalls bezieht sich das Schriftbild von Sonia Jakuschewa auf den jahrzehntelangen Briefwechsel von Rainer Maria Rilke ((Prag 1875-Montreux 1926)) und Lou Andreas-Salomé ((Petersburg 1861- Göttingen 1937)) der russischen Schriftstellerin, die auch schon in engem Kontakt mit Nietzsche stand.  Die verschiedenen, verschachtelten Schriftarten geben mit den simultanen Mitteln des Tafelbildes eine Vision von der Komplexität dieser Beziehung.  Und es gibt auch an diesem Abend merkwürdige Beziehungen: Nicht nur, dass die Künstlerin aus Russland stammt, auch war Rilke ein langjähriger Freund von Heinrich Vogeler, Prof. Jan Vogelers Vater.  Ein russisches Wort steht auf dem Bild: „islomai“, was soviel wie „zerbrich Dich“ heißt und für die beiden Briefpartner eine Art Zauberwort war, sich aus objektiv oder subjektiv als zu festgefahren empfundenen Situationen zu befreien.

*   Und das leitet zu Punkt (3.) über: Solches Zerbrechen, Zersplittern, Prismatisieren ist nicht nur eine gute Methode in persönlichen Depressionen.  Es ist am Ende des letzten Jahrhunderts zu einer grundlegenden Haltung geworden.  Wie kaum ein anderes war das 20.  Jahrhundert durch große Utopien und totalitäre Entwürfe gekennzeichnet.  Und die meisten von ihnen sind - nach größtem Blutzoll - zerbrochen.  Die daraus folgende Unfähigkeit, überhaupt noch übergeordnete Entwicklungsziele zu benennen führte zum Begriff der Postmoderne, ein in diesem Zusammenhang verständlicher, im übrigen höchst kritischer Begriff. Doch ganz sicher ist spätestens seit 1989/1990 etwas zu bemerken, was als „Ende der Großen Erzählungen“ bezeichnet werden kann.  Und das gilt nicht nur politisch.  Das ist ebenso im ästhetisch-künstlerischen Bereich festzustellen: Statt visionärer Kunst - Arbeiten an individuellen Teilproblemen, statt inonnativer Kunstkritik - bloße Kunstvermittlung-, statt großer Romane - Patch-Work und Short-Stories.

*  Ganz sicher ist dieser Utopieverlust zu beklagen, davon wie er sich in der Sowjetunion ereignete, kann Prof. Jan Vogeler erzählen.  Aber in dem Rückzug auf die kleinen Geschichten, mit dem gerade die Künstler weniger Probleme haben, als alle, die irgendwie in Zusammenhängen stehen, bei denen Bewertungen gefragt sind, in diesen kleinen Geschichten und Momenten liegt auch ein Gewinn an individueller Freiheit.  „Short Stories auf der Heide" heißt diese Ausstellung. Die bäuerliche Feldflur ist ordentlich abgesteckt, aber das wilde, einst devastierte, nun wiederbelebte Land der Heide bietet Möglichkeiten zur freien, noch nicht definierten Begegnung unterschiedlicher Geschichten. Geschichten, die von innen nach außen gehen, die Strukturen entwerfen,undVernetzungen aufbauen, statt nur bestehende zwanghaft nachzuvollziehen.

* Die Heide bietet aber auch traditionell den Platz für
Truppenübungen.  Schön, wenn es denn Übungen bleiben.  Langfristig könnte es eine anthropologische Konstante sein, dass Menschen sich nach den großen Erzählungen sehnen und sie kämpferisch durchsetzen wollen - auf die weltumspannende Utopie scheint schwer zu verzichten - hilfsweise werden auch magische und mystische Erklärungsbilder goutiert.

*  Die Kunst versucht immer wieder, aus ihrer individuellen Produktion heraus Autonomie zu fordern und zu fördern.  Doch individuelle Freiheiten sind teils schwer durchzusetzen, teils schwer zu ertragen.  Und die allgegenwärtige Freizeitindustrie versucht, mögliche Freiräume zu besetzen.  Dazu kommt, dass es so viele Medien gibt, dass man schon gar nicht mehr weiß, was mit ihnen anfangen.  Weltkonzerne wie - , Bertelsmann beschäftigen „Content Scouts“, die die Aufgabe haben, Inhalte für schon vorhandene technische Möglichkeiten zu suchen, denn hypostasierte Kommunikation allein kann kein letztlicher Zweck sein.  Es ist aber ganz sicher der falsche Weg, Inhalte für vorhandene Mittel zu suchen, statt Wege für vorhandene Inhalte zu schaffen - auch wenn diese Inhalte fürs erste die kleinen Geschichten sind und nicht die großen Utopien.

* Zum 4.: Die großen Utopien haben Vater und Sohn Vogeler die meiste Zeit ihres Lebens beschäftigt.  Der Jugendstil- Künstler Heinrich Vogeler wollte die Welt verschönern und verbessern, sein Weg führte ihn von der Künstlerkolonie Worpswede in die Sowjetunion Stalins.  Und sein 1923 in Moskau geborener Sohn Jan ging den umgekehrten Weg: Von der Erziehung in Moskau über den Einmarsch in Berlin mit den russischen Truppen zum Phosophie-Professor an der Lomonossow-Universität und in Leipzig  (Promotion erstaunlicherweise über Heidegger, Habilitation über die Frankfurter Schule), dann als Berater am Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK der KPdSU und Dolmetscher in Gesprächen mit den führenden deutschen Genossen bis schließlich zur Mitgestaltung von Gorbatschows Perestroika und zum Austritt aus der Partei 1990. 1998 dann erfolgte die Übersiedlung nach Deutschland.  Wir haben das Glück, einen so bedeutenden Zeitzeugen der Macht und des Zerfalls der Idee des Sowjetsozialismus bei uns zu haben. 
(Ich übergebe Ihnen, Professor Vogeler, das Wort.)

© 2001, Hajo Schiff, Hamburg
 
 
 
 
 
 

zurück