II. Prozesse und ihre Aufzeichnungen
Mit diesem Ausflug in die Menschenmasse der Londoner City vor 150 Jahren möchte ich die Blicke auf die Objekte von Sylvia Schultes lenken. Der Titel ihrer Ausstellung „Morphologische Fragmente I, Schwarmintelligenz für Anfänger“ könnte in einem Vorlesungsverzeichnis eine Einführungsveranstalt- ung für „Hörer aller Fachbereiche“ ankündigen; denn diese Thematik lässt sich kaum einem einzelnen Fach zuordnen, weil sie gleichermaßen relevant für Mathematik, Physik, Design, BWL, VWL, Biologie etc. ist. Geistesgeschicht- lich wurde Morphologie von Karl Friedrich BURDACH eingeführt, der die Besonderheiten embryonaler Entwicklungsstufen untersucht hatte und wegen der Parallelität sich ausformender körperlicher Eigenarten Schlussfolgerungen hinsichtlich der biologischen Verwandtschaften von Lebewesen zog. Weil sich diese Systematisierung für eine Übertragung auf politische, soziale und kulturelle Felder eignete, wurde die Morphologie schließlich zum Vergleich von historischen Epochen in der Universalgeschichte herangezogen. Dafür stehen Oswald SPENGLER und Arnold J. TOYNBEE, die versucht haben, Dynamiken zu identifizieren und zu systematisieren, die ungleichzeitige Entwicklungsstufen verschiedener Kulturen vergleichbar machen. Die Arbeiten beider Historiker verbindet das Erfassen der Dynamik von kulturellen und geschicht- lichen Prozessen; doch während Toynbee sein System ergebnisoffen anlegte, unterlag Spengler dem Reiz dieser Methode und leitete daraus Prognosen für zukünftige Entwicklungen ab, die einer politisch bestimmten Entwicklung im Weg standen.

Diese Vorgehensweise kann die Kunst nicht unberührt lassen, denn Form und Gestalt sind grundlegend für Kunstwerke, weshalb sich Philosophen Vorstellungen aus der Kunst geliehen haben, um Hierarchien einer Gesellschaft begrifflich zu fassen. So benutzte Karl MARX „Basis“ und „Überbau“, um die Formation von Gesellschaft ähnlich der eines Gebäude oder einer Plastik auf einem Sockel vorzustellen. Deren statische Präsenz steht allerdings im Gegensatz zur Dynamik sozialer Prozesse und den sich in ihnen überlagernden Geschwindigkeiten. Daher stellt sich die Frage, wie ein Gebilde vorzustellen ist, das als Projektionsfläche von Prozessen dienen könnte; denn ein prozesshaftes Denken, das kulturelle und organische Vorgänge abildet, muss entschieden die Dimension Zeit einbeziehen!
Mit dem Faktor Zeit gehen wir aus dem 19. Jahrhundert, in dem die uns interessierenden Untersuchungen systematisiert wurden, zu einem neuen Ansatz der Forschung, auf den uns der Untertitel der Ausstellung lenkt: Schwarmintelligenz. Sowohl die Vorstellung von Schwarm als auch von Intelligenz impliziert Zeit; denn beide sind extrem beweglich und stellen sich prozessual dar. Zeitliche Abläufe als Prozesse haben schon immer Philosophie und Kunst herausgefordert. Heute können manche dieser Ereignisse mit Hilfe technischer Mittel sichtbar gemacht werden. Hatten Künstler im Bereich des Sichtbarmachens der Wirklichkeit bisher eine führende Stellung, so sind ihnen heute durch die Anwender bildgebenden Technologien Konkurrenten erwachsen.

Seit im 19. Jahrhundert Prozesse fotografisch fixiert und auf Filmen als Folge von Momentaufnahmen dargestellt werden können, wurden Vorgänge und Zusammenhänge sichtbar, die bisher wegen ihrer Schnelligkeit oder Langsamkeit der Trägheit des menschlichen Wahrnehmungsapparates verborgen geblieben waren. Trotzdem blieb die menschliche Beobachtungs- gabe noch lange führend, wenn es z.B. darum ging, Beobachtungen mit optischen Geräten festzuhalten, die es erlaubten, immer tiefer in den Mikro- und Makrokosmos zu blicken. Erst als Mitte des 20. Jahrhunderts verbesserte Aufnahmeverfahren - darunter auch die Elektronenmikroskopie und Radioastronomie, die Beobachtungen im nicht wahrnehmbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums ermöglichten - den Mikro- und Makrokosmos detailreicher wiedergeben konnten, wurden Handzeichnungen nach naturwis- senschaftlichen Beobachtungen durch technische Aufzeichnungsver- fahren verdrängt. Darüberhinausgehend liegt heute die große über allen Wahr- nehmungen stehende Herausforderung nicht mehr allein im adäquaten Bild, sondern in der Aufdeckung der Entwicklung von kosmologischen, historischen, ontologischen, sozialen, biologischen und technischen Prozessen sowie ihrer wissenschaftlichen Erfassung und Systematisierung: Ein komplexes und interdisziplinäres Feld, dessen Phänomene durch Simulation, also der indirekten Darstellung mittels Großrechnern, berechenbar gemacht worden sind und auch visualisiert werden können. Inwiefern sie dadurch wirklich sichtbar werden, muss gesondert erörtert werden.
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