Objekte in der 4. Dimension

Johannes Lothar Schröder über die Ausstellung „Morphologische Fragmente I, Schwarmintelligenz für Anfänger“ von Sylvia Schultes


I. Urbane Menschenmasse sondieren

1849 schilderte Edgar Allen Poe die Menschen, die sich am Fenster eines Caféhauses in der Londoner City vorbei drängten1. Er vergaß nicht zu erwähnen, dass sein Ich-Erzähler soeben von einer Krankheit genesen war, womit Poe andeutete, dass sein Protagonist nach einer längeren Phase der Isolation überempfindlich auf äußere Reize reagierte. Die so geschärfte Wahrnehmung führte dazu, dass der Erzähler die Objekte seiner Beobachtungen, die Passanten, mit literarischen Mitteln im Sinne einer soziologischen Erhebung klassifizierte.

Er unterschied zwei 'Klassen': 1. die Gelassenen und 2. die Rastlosen. Unter diesen bestimmte er anhand ihrer Kleidung Adelige und Angehörige einzelner Berufe, darunter Kaufleute, Advokaten, Krämer und Börsenjobber. Die Aufmerksamkeit, die er „diese(n) Eupatriden (konservative Großgrundbesitzer) und Durchschnittler der Gesellschaft“ versagte, schenkte er dem „Stamm der Büroangestellten und Ladendiener (tribe of clercs)“. Bei ihnen fand er die guten Manieren der Nobelwelt mit 12- bis 18-monatiger Verspätung wieder, weshalb er sie von diesen wie Kleidung aus zweiter Hand „aufgetragen“ sah. Unter der „Abteilung der höheren Angestellten (division of upper clercs)“, identifizierte er die Sprösslinge aus gutem Hause. Mit dem Einbruch der Dämmerung  bemerkte er das Auftauchen der „Rasse der Taschendiebe (race of swell pick-pockets)“, die sich noch vor den Spielern und Spekulanten ihr Stelldichein gab.

Frauen, Trödler, Wirte, Trinker, Arme, Kranke und Gebrechliche und alle die Anderen, die nicht in der Innenstadt auftauchten, bekommt Poes Protagonist erst zu sehen, als er sich einem Passanten an die Fersen heftet, dessen Gesicht aus der Menge heraus stach und ihn dermaßen anzog, dass er sich spontan entschloss, ihm zu folgen. Rastlos durchstreift er auf diese Weise auch abgelegenere Straßen, die ihn in von Krankheiten, Gestank und 

Alkoholismus gezeichnete Vororte und Elendsviertel führen. Diesen Bewohnern der Außenseite der Stadt ist der zweite Teil - die Nachthälfte - der Erzählung, gewidmet.

Auf wenigen Seiten entwickelte Poe eine Momentaufnahme der Stadt, die in der ersten Hälfte der Erzählung durch Blicke von einem Kaffeehaustisch gewonnen wurden. In der zweiten Hälfte setzt er seinen Beobachter in Bewegung. Dieser verlässt seinen festen Platz, um dem durch die Stadt irrenden Unbekannten zu folgen, der nirgends Ruhe findet. Dessen Gesichtszüge entspannen sich allein dann ein wenig, wenn er in einer quirligen Masse versinken kann, doch ein Verweilen gibt es nirgends. Poe nannte den Unbekannten einen Massenmenschen, doch hat dies nichts mit der Vorstellung zu tun, die sich heute von einem Massenmenschen verbreitet hat, der als eine unauffällige konfektionierte Ausgaben eines normalen Menschen gilt. Poes Massenmensch ist geradezu das Gegenteil, er ist Einzelgänger und Außenseiter, der sich in der offensichtlich chaotischen Struktur einer akut fließenden städtischen Menschenmasse treiben lässt. Dabei ist er zugleich ein Massenflüchter und -sucher. Umgeben von Menschen findet er momentane Erleichterung, die man eine Seinsbestätigung nennen könnte, doch wird er durch eine verborgene Energie sogleich weiter getrieben. Der Unbekannte verhält sich wie eine Sonde, die in den Menschenmassen der Metropole kursiert, während der ihm folgende Protagonist das Programm darstellt, das die Bewegungen registriert und in Ansätzen auswertet.

Eine soziologische Betrachtungsweise entsteht hier fast beiläufig aus dem Herumschweifen des enui. Es bringt den Erzähler in die Nähe der sonst im Verborgen lebenden Stadtbewohner, die das dunkle Gegenbild der sich in der City herumtreibenden Menschen bildet. Erst die wenig beachteten und daher unstrukturiert erscheinenden Gegenden der Stadt, die der Außenseiter aufsucht, offenbaren die Gesamtheit der Stadtbevölkerung und die Facetten ihrer Bewegungen. In ihrer dichterischen und wissenschaftlichen Erfassung liegen die Wurzeln einer Tradition, auf die wir uns im EINSTELLUNGSRAUM berufen können, wenn wir die Kunst nach ihrem Beitrag zur Erkenntnis der Phänomene im urbanen Verkehr befragen. Bereits Walter Benjamin wies darauf hin, dass Charles Baudelaire, der „im Sinne von Poe schreibt“2,gut beraten war, ein
he zu legen.
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1 Edgar Allan Poe: The Man of the Crowd, in: The Complete Tales of Mystery and Imagination etc., London 1981, p. 164-169, 165. Als dt. Übersetzung zog ich hinzu: Der Massenmensch, Übersetzung von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, in: E.A. Poe: Werkausgabe in 4 Bänden, Olten 1966, Bd. II, S. 706 - 720. Die im Folgenden zitierten Stellen, die mit dem engl. Original ergänzt wurden, übersetzte ich selbst, damit die von Poe gewählten Bezeichnungen deutlich bleiben. 2 W. Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus.,
     in: Ges. Werke, Bd. I. 2, S. 509-690, S. 545