Dieser Prozess einer Wahrnehmung, die die Grenzen des Konsens transzendiert und sich der ausgeblendeten Kulisse und dem „weißen Rauschen“ öffnet, spielt eine zentrale Rolle in den Arbeiten von Sylvia Schultes. Denn dieses weiße Rauschen, ob visuell oder auditiv, enthält alle Klänge und Farben, alle Details, die sich aus der Kulisse lösen können, sobald man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet.

Doch nicht nur unerwartete Details können aus einem scheinbaren Durcheinander hervorgehen, genauso kann ein „statistischer Blick“, der auch das üblicherweise Ausgeblendete wahrnimmt, Verdichtungen und Interferen- zen erkennen, die einen größeren Zusammenhang, eine größere Bewegung erahnen lassen, die verborgen geblieben wäre, wenn man nicht den Blick vorurteilsfrei nach außen gerichtet hätte.
In ihren Aquarellen arbeitet Sylvia Schultes mit Rastern und anderen linearen Strukturen, die keine Anlehnung an gegenständliche Kontexte haben. Sie können gelesen werden das genannte ungefilterte Gewebe einer Wirklichkeit, auf das der Betrachter seine Sinne vorurteilsfrei richten soll.
In den Bildern der gegenwärtigen Ausstellung sind es Strukturen, die an Klangwellen und deren Interferenzen erinnern. In ihrem zusammenhangslos erscheinenden Verlauf verdichten sie sich, scheinen sich zu verfestigen und Zusammenhänge zu bilden, die auf die oben genannten, größeren Bewe- gungen schließen lassen.
Da jede einzelne Linie als solche zu erkennen ist, die strukturellen Elemente weder in einem Mikrobereich zu etwas Einheitlichem verschmelzen, noch so sehr in den Makrobereich hervorgeholt werden, daß sie eigenständige Entitäten bilden, kann der Betrachter den Prozess, in dem sich die Vielheit zu einer Einheit zusammenfügt oder umgekehrt aus der Einheit eine Vielheit hervorgeht, unmittelbar nachvollziehen.
Die bewußte Anlehnung an Echogramme, die visualisierten Informationen von Sonar-Messungen, verweist zudem auf den Vorgang des Abtastens einer äußeren Wirklichkeit sowie ihre auditiven Aspekte, auf die Geräusche, die uns umgeben, ganz im Sinne Marshall McLuhans, nach dem es vor allem das Auditive ist, das in einer visuellen Welt verdrängt wird.
In der Installation „Spurensichtung“ wird der durch zwei Weitwinkel-Linsen gezielt gelenkte und durch den Fresnel-Effekt verfremdete Blick wie durch zwei Pupillen auf etwas in der äußeren Welt gelenkt, das wir in unserem alltäglichen Vollzug der Wahrnehmungsroutinen in der Regel ausblenden: auf den Un-Ort B-75, eine Straße, die nach dem sozialen Konsens als Objekt ästhetischer Betrachtung für irrelevant gilt und entsprechend unseren Filtermechanismen zum Opfer fällt.
Doch was geschieht, wenn wir dieses Wahrnehmungsschema durchbrechen und unsere Aufmerksamkeit gezielt darauf richten?
Auch hier können plötzlich überraschende Details hervortreten, sich aus der visuellen Kulisse lösen, genauso wie in dem Zusammenwirken aller Details Hinweise auf größere Zusammenhänge und Bewegungen herausgelesen werden können: Die rhythmischen Schübe des Verkehrsflusses, sich wiederholende Handlungsabläufe von Passanten, die auf Dinge oder Ereignisse außerhalb unseres Sichtfeldes oder Gehörkreises schließen lassen, Orte, die von Hunden mit erhöhter statistischer Dichte aufgesucht werden und darauf verweisen, daß sich direkt unter unserer Nase Informationsnetze ausbreiten, die unsere Sinne außerstande sind zu erfassen.
Dieser bewußt gelenkte Blick in das sonst ausgeblendete Profane erhält ein Gegengewicht durch die dazugehörige Klanginstallation „UnterTon“. Die seltsam unirdischen, tiefen Drones und hellen Impulse, die an Echopeilung erinnern, werden - besonders durch das Tragen von Kopfhörern - in einen Kontext der Inneren Welt gebracht. Sie können gedeutet werden, als die unterbewußten Resonanzen, als die inneren Ereignis diesseits der Pupille, die ihren Abgleich mit den Ereignissen in der Außenwelt suchen.

Denn schließlich müssen der innere und der äußere Weg der Erkenntnis sich in dem Gegenstand ihrer Betrachtung und dem Ziel ihrer Suche berühren: in dem, was ist.

Ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2015


Vernissage
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