Eine doppelte Negation des deklassierten Körpers
von Johannes Lothar Schröder

Durch Maschinen überflügelt und inzwischen deklassiert, sind Körper heute durch zahlreiche Prothesen, Geräte und Vereinfachungen des Alltagslebens schlapp und unsinnlich geworden. Deshalb müssen sie in der Arbeitswelt, in Sport und Medien, im Theater- und Musikbetrieb und in der Freizeit durch Coaching, Doping und Einspannung in Trainingsgeräte überwältigt und in neue Form gebracht werden. Wie Hans-Christian Dany in seinem Buch: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, 2008 (1)  ausführte, werden diesem Körper zusätzlich bio-chemisch gleichsam Beine gemacht. Danys Verdienst ist es,  die Darstellung der Verbreitung von synthetischen Drogen mit dem Phänomen der Beschleunigung aller Bereiche der Gesellschaft verknüpft zu haben. Deshalb war die Lesung des Autors ein angemessener Auftakt der Performancetage "Schubumkehr".

Dany las das Kapitel Sommer der totalen Gegenwart aus Speed(1), der Geschichte des Punk, in welchem es um das Ausbremsen des durch Speed zur Kunstfigur vergrößerten Sängers der Sex Pistols geht. Während seiner Amerikatournee zwangen Polizeimaßnahmen diesen Jonny Rotten zum Entzug, so dass der Bühnenstar mangels der gewohnten Drogenzufuhr von Konzert zu Konzert immer mehr zu seinem schüchternen Alias John Joseph Lydon schrumpfte (2).


Im EINSTELLUNGSRAUM wird Kunst nicht als Antreiber der technologischen Beschleunigungsprozesse gesehen, wie es die Futuristen vor 100 Jahren propagierten und wie es der Medienhype der letzten 20 Jahre den Kunstkonsumenten nahe legte. Auch wenn es angesichts von Medienkunst kaum zu glauben ist, liegt der Vorteil künstlerischer Arbeit weiterhin darin, nicht von technischen Entwicklungen getrieben zu sein, sondern diesen etwas entgegen setzen zu können. Im EINSTELLUNGSRAUM hatten nicht erst 2008 künstlerische Äußerungen eine Chance, zu verlangsamen und sich damit dem Paradox zu nähern, dass die Künstler selbst bremsen, obwohl sie ihrerseits von den gesellschaftlichen Beharrungskräften gebremst werden. "Schubumkehr" entwickelte so etwas wie die doppelte Negation der Beschleunigung.

Das Namenlose bemerkbar machen

Die eingeladenen Akteure zeigten, dass die meist im Verborgenen stattfindenden Notbremsungen, Aufschläge und Erschütterungen mit den Möglichkeiten von Performances nicht nur sichtbar gemacht, sondern die maßgeblichen Energien auch umgelenkt werden können. 

Gewöhnlich bleiben sie nämlich "unmarked", also namenlos und ohne Kennzeichnung, während den Konventionen entsprechende Kunstobjekte "re-marked", also bemerkt und in bestehende Diskurse oder Wertesysteme eingebunden und wiederholt aufgeführt werden. Mithin ist der Akt der erstmaligen Veröffentlichung nicht ausreichend, um die Anonymität von unexkursiven, also nicht vom Mainstream sanktionierten, Werken aufzuheben. Deshalb bedürfen gerade diejenigen Werke, die sich nicht in bestehende Diskurse einfügen, anderer Diskurse, um wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Erst eine Umwertung zumindest von Teilen bestehender Kunstsysteme schafft die Voraussetzung für den solchen Werken zukommenden Platz in der Kultur. Peggy Phelan's Buch über diese Beziehungen zwischen dem Selbst und den Anderen, wie sie sich auf Fotos, Gemälden, in Filmen, im Theater, in politischen Protesten und in der Performance Art darstellen widmet sich diesem Thema aus einer feministischen Sicht und geht davon aus, dass große Bereiche der Kultur und Gesellschaft aus den herrschenden Diskursen ferngehalten werden (3).


Roi Vaara schrieb mit Pinsel und schwarzer Farbe Begriffe,  die mit Wertungen im Alltags- und Berufsleben, in der Politik, in den Nachrichten und in der Philosophie verknüpft sind, in Form einer nach Innen immer enger werdenden Spirale auf das Pflaster eines Parkplatzes. In seinem schrumpfenden Aktionsfeld drehte er sich schließlich
immer schneller werdend um sich selbst,  bis er stürzte. Nach dieser Krise - gleichsam mit neuem Blick- wieder auf den Beinen, arbeitete er sich schrittweise aus der Spirale wieder heraus, während er  die vorhandenen Begriffe durchstrich und  durch neue ersetzte: 
DEATH  BIRTH  FAITH FACT FATE CHOICE JESUS CHRIST SANTA CLAUS POLLUTION MANURING THE WHITE HOUSE BLACK HOLE DISPOSAL RECYCLABLE  REDUCTIONISM COMPLENTY ANALYSIS RESONANCE BUSH BUSHMAN GROSSNATIONAL PRODUCT  WELLFARE COMPETITION COLLABORATION WORK CATHARSIS MONEY LIFE
Die Begriffspaare entsprechen nicht den z.B. in Intelligenztests und Quiz abgefragten Denknormen, sondern propagieren quasi anarchistische und humoristische Alternativen, die aus dem Wissen heraus gewählt wurden,  dass niemand perfekt sein kann, durch die Umkehr vorhandener Praktiken jedoch anders, möglicherweise sogar freier wird.

Kira Stein verband
durch Gesang, Perkussion und Körpersprache Türen, Wände, Schaufenster und die Kellertreppe des Ausstellungsraums mit Fahrradständern, Laternenmasten, Litfasssäule und andere Elementen auf der Straße. Die Geräusche, die sie mit einem Schraubenziehergriff aus den Gegenständen herausschlug, gaben deren nie oder selten gehörte akustische Qualitäten frei und lenkten die Aufmerksamkeit der Anwesenden über das
Gefördert von der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
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1 Hans-Christian Dany: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, Nautilus, Hamburg 2008, 183 Seiten
2 ebenda, S.147ff
3
Peggy Phelan
: Unmarked, London, New York 1996