Kunst ebnet Wege zum Diskurs

Ulla Lohmann

Rede zur Ausstellungseröffnung LIMITED LIBERTY im Einstellungsraum e. V., Hamburg, 28. April 2021 R&STkollektiv – Brigitte Raabe und Michael Stephan



SEELENKLIMA! Leitmotiv des Jahres 2021 im Einstellungsraum. LIMITED LIBERTY! Titel der Ausstellung. Was für Assoziationsmuster! Blitzschnell nehmen diese Vorstellungen konkrete Gestalt an und graben sich tief in die momentane Gefühlswelt. Treffsicher sind sie geeignet, Reste mühsam aufrecht erhaltener Alltagsnormalität augenblicklich ins Wanken zu bringen.
Bis vor wenigen Monaten beherrschte das Klima, das globale Klima, die Schlagzeilen der Medien. Kein anderes Thema hatte bisher in einer derartigen Dynamik den privaten Raum, die breite Öffentlichkeit und die Politik der westlichen Länder bis in ihre Spitzen vereinnahmt. Die Protagonisten forderten ungeteilte, ausnahmslose Aufmerksamkeit. Persönliche Meinungen, wissenschaftliche Er- kenntnisse und fake news rauschten unaufhaltsam durch Presse, Rundfunk, Fernsehen und durch die Kanäle der sozialen Medien. Je unerbittlicher die Schlacht um das Weltklima sich verbreitete, umso mehr begann das Seelenklima zu kränkeln. Es litt zunehmend an Diskussionsverlust, Kritik(un)fähigkeit, Mangel an gegenseitiger Wertschätzung und Sublimation der Meinungsfreiheit. Trost fand sich dabei aber immer noch in einem zuversichtlich konstruktiven Blick auf die Zukunft.

Dann allerdings überzog ein neues, unvorstellbares globales Schreckensszenario den Planeten. Die Debatte wurde härter, unnachgiebiger, rigoroser, widerspruchsfreier, diffamierender und ausgrenzender. Bisher diffuse Ängste, gespeist von fernen Dystopien künftiger Erderwärmung, mutierten jetzt zu scheinbar unmittelbaren, unvermeidbaren Bedrohungspotentialen mit augenblicklicher und unausweichlicher Wirkung für das eigene Schicksal. Die Vorstellung, jeder Mensch könne das Virus in sich tragen, es verbreiten und damit zu einer todbringenden Begegnung werden, löste weltweite Panik aus. Belastbare Fakten allerdings für evidenzbasierte politische Entscheidungen und zur Einordnung des Geschehens in die Alltagsrealität sind bis heute nicht ausreichend erhoben. Und so leidet jetzt das Seelenklima zusätzlich an Unwissenheit, Furcht, Unsicherheit, Verzweiflung und Einsamkeit. Die Folgen für Ökonomie, Kultur und für das gesellschaftliche Leben reichen ins Bodenlose. In diesem Szenario den Optimismus nicht zu verlieren ist ein hoher Anspruch.
Limited Liberty – Kunst lebt vom Diskurs, von Offenheit und Meinungsvielfalt, von persönlichen Erleben und von direkten Begegnungen. Kunst braucht den Dialog und die Freiheit sich zu äußern. Aber dieses Feld wird allmählich ebenso zum Steinbruch für Beschränkungen, Untersagungen, Behinderungen und vorauseilendem Gehorsam. Auch hier leidet das Seelenklima zunehmend: Diskriminierung, Pedanterie, Intoleranz und Vorurteil hinterlassen bittere Spuren. An kulturellen und kreativen Perspektiven mangelt es jedoch nicht.

In diese gesellschaftliche Krisensituation hinein fokussieren die Künstler des R&STkollektivs ihren Blick auf eine spezielle Gruppe von Lebewesen. Zentrales Objekt ihrer aktuellen Arbeit sind die Nacktschnecken aus dem Stamm der Mollusken. Was auf den ersten Moment wie eine realitätsferne Absurdität, abseits jeglicher Aktualität erscheint, zeigt sich bei genauerer Analyse als ein künstlerisches Konzept im Kontext naturwissenschaftlicher, sozialer und ökonomischer Erkenntnisse. Schnecken haben eigentlich nichts Außergewöhnliches zu bieten. Niemals waren sie Gegenstand spektakulärer Forschung. Kopfzerbrechen verursachen sie allenfalls dem professionellen Gartenbau und den Hobby-Gärtnern. Aber immerhin taugen einige ihrer behausten Vertreter noch als Delikatesse, vorwiegend der französischen Küche. Was also treibt die Künstler, sich nun ausgerechnet mit der Nacktschnecke zu befassen?

Das R&STkollektiv hat erkannt, dass diese Tiere einzigartige Lebens- und Über-Lebenskünstler sind. Evolutionsgeschichtlich werden sie in eine Periode von vor etwa 500-Millionen Jahren datiert. Wie war es ihnen also möglich, in dieser unvorstellbar langen Zeitspanne nicht allein nur die Existenz zu sichern, sondern sich den immer wieder wechselnden Umweltbedingungen mit einer erfolgreichen Weiterentwicklung zu stellen? Entscheidende Fakten dieses dynamischen Geschehens sind – und das gilt für die gesamte Flora und Fauna ebenso wie für die Mikroorganismen – ein passendes Nahrungsangebot, ein geeignetes Habitat, ein flexibler und nicht allzu komplexer Habitus und ein unkomplizierter Reproduktionsprozess. All das zeichnet diese Wesen aus und hat ihrer Gruppe dauerhaften Bestand in den schärfsten Krisen des Planeten gewährt - bis heute.


Die Künstler assoziieren mit den Nacktschnecken ein „dys- und utopisches Transfor-mationsmodell der menschlichen Natur“ und wollen in dieser Vorstellung den „Spuren einer wirbellosen Populationsform folgen“. In einer Installation mit verschiedenen thematischen Modellen werden fiktive Szenarien visualisiert. Existenzielle Parameter wie Klima, Raum und Bewegung sind in künstlerische Dimensionen überführt. Messgeräte und technisches Instru-mentarium erinnern an die Etablierung und Verifizierung von Forschungshypothesen. Objekt-hafte Raummodelle simulieren Unterkünfte und Besiedlungsformen. Schließlich werden zur
Der 04. Beitrag zum Jahresprogramm SEELENKLIMA des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2021
Präsentation

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