dadurch sinnfällig, dass Bildschirme und andere Unterhaltungsmedien den Blick aus dem Fenster abgelöst haben.

Das Fotografieren während der Fahrt ist demnach als ein Ausbruchversuch zu werten, mit dem der oder die temporär Gefangene versucht, sich aus der vorgegebenen Situation zu befreien bzw. einen Ausweg zu verschaffen, indem gewisse Momente des Reisens durch die Fixierung des Augenblicks der Analyse zugänglich gemacht werden, wie das auch durch die Fotos von Susan Paufler möglich ist.

Durch die Arbeit mit der Kamera wird der Versuch gemacht, den extrem flüchtigen Moment zu bannen. Doch ist das Auswahlprinzip ein zufälliges, das den Ort durch die Optik zu fixieren und den Zeitpunkt der Aufnahme zu bestimmen versucht aber doch nichts wirklich in Erfahrung bringen kann. Die Kriterien für die Auswahl der präsentierten Aufnahmen sind schließlich Ästhetische, was die Aussage über den fotografierten Ort nicht zwingend macht, sondern in seiner Beliebigkeit verstärkt. Keine der hier ausgestellten Fotografien könnte man einem bestimmten Ort zuordnen.

V. RAUM ALS ILLUSION

Obwohl unsere Aufmerksamkeit gleichsam in "Pakete" geteilt ist, spricht man von einem Bewusstseinsstrom. Wann und wie reißt er ab? Wie verhält er sich, wenn die Eindrücke beschleunigt werden? Das kann durch eine Fahrt aber auch durch Medien sowie durch Träume oder Halluzinationen geschehen - ein komplexes Feld, das mitbedacht sein sollte, auch wenn jetzt nur einige Aspekte berücksichtigen werden können.
Tatsächlich sind Aufmerksamkeitsspannen im höchsten Maße zeitlich begrenzt und führen zu einer Zerstückelung der Wahrnehmung, so dass wir allenfalls Segmente einer Reise wahrnehmen können.

Wenn man sich die Vorstellungen vom Raum vergegenwärtigt, stellt man fest, dass er auch historisch gesehen schon immer ein Konstrukt war, der mal endlich als Behälter und mal unendlich infinit vorgestellt wurde. Nach Platon ist er einfach da, damit die  Dinge des Seins und auch der Träume einen Raum einnehmen können. Aristoteles diente der Raum dazu, die Dinge zusammen und in Ordnung zu halten. Seit der Renaissance stellt man sich den Raum unendlich vor, wobei heute die Anhänger des Urknalls das Weltall für endlich halten, während andere mehrere nebeneinander existierende Welten/Kosmen vermuten.
Der subjektiv wahrgenommene Raum ist nicht der der Philosophie und Naturwissenschaften, und wird durch Geschwindigkeit, wie eben dargestellt, zum Verschwinden gebracht. Er hat keine Dauer, er kann nicht und schon gar nicht präzise in Erinnerung behalten werden.
In der Kunst ist die Auflösung der Raumvorstellung mit der Aufgabe der Perspektive infolge der Entwicklung von Fotografie und Film vorangeschritten. Er wurde auch nicht mehr benötigt, um die Menschen wie im zentralperspektivischen Bild der Renaissance zu verorten, auf dem schließlich jeder Mensch als konkrete Personen an die Stelle der Heiligen, der Götter und Propheten treten konnte. Die modernen Menschen sind ortlos, sie haben etwas geisterhaftes angenommen. Nicht von ungefähr tauchen auch hier auf den 30 ausgestellten Fotos zwei Gesichter auf. Sie bilden nicht direkt einen Menschen ab, sondern Schatten eines Gesichts, das mittels der Scheiben in die soeben durchfahren Landschaft gespiegelt wurde. Es handelt sich um eine Momentaufnahme, die jedoch nur auf dem Foto vorhanden, keinen Ersatz für eine Verortung der Person darstellen kann, deren Namen und Identität wir nicht kennen. Was beschrieben werden kann, ist lediglich die Qualität der Reflexion auf der Fensterscheibe. Auf ihr erscheint die abgebildete Person schemenhaft, wodurch im Grunde genau die Eigenschaft der Fotografie bestätigt wird, Licht selbsttätig Bilder prägen zu lassen, die den Zufall nicht ausschließen. (Die Inszenierung ist demgegenüber ein Prozess im Fotostudio, der diese Qualitäten des jeweiligen Geräts auszuschließen versucht.)

Auch wenn die Fotos von Paufler als Untersuchung über einen längeren Zeitraum angelegt sind, so sind die einzelnen Fotos - ohne damit ihre künstlerische Qualität, die sich freilich aus dem Konzept und der dazugehšrigen Präsentation ergibt - Schnappschüsse, die das Wesen der Fotografie unter den heutigen Bedingungen aufdecken. Es entspricht dem Wirklichkeitsverlust durch Geschwindigkeit (Paul Virillio). Dort, wo die Wirklichkeit in aller Schärfe analysiert und bearbeitet wird, ist Kunst als ein übergeordnetes Dispositiv am Werk, das die Möglichkeiten der Fotografie in einer kritischen und analytischen Atmosphäre flankiert und ihr Potential auskundschaftet. 

Was mich mit Andacht erfüllt hat, war die Stimme der im Frühjahr verstorbenen dänischen Dichterin Inger Christensen. - Wer ihre Stimme vor den beiden im Keller ausgestellten Lichtkästen hörte, wird bemerkt haben, dass sie eine große Dichterin ist. - Das von ihr auf Deutsch vorgetragene Gedicht bringt die auf den Fotos nur indirekt anwesende Zeitebene ins Spiel. Es ist gefügt aus den Dingen, Wesen und Gegebenheiten des Lebens, die im Dänischen dem Alphabet folgend nach der Fibonacci-Zahlenreihe komponiert worden sind, und daher in der deutschen Übersetzung nicht mehr dieser sprachlichen Ordnung folgen. Das tut der Wirkung des Gedichts keinen Abbruch, zeigt aber, dass selbst die alphabetische Ordnung nur eine relative Gültigkeit besitzt, um Beziehungen zwischen den Dingen und Lebewesen zu stiften, die so flüchtig sind, wie ein Blick aus dem fahrenden Zug.



Vernissage
Gefördert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
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