wurden gescannt und digital weiterverarbeitet, wobei es der Künstlerin nicht darauf ankam, die Bilder zu manipulieren. Man könnte ihren Ansatz daher als dokumentarisch bezeichnen, wenn sich die Motive nicht gerade dadurch unterscheiden würden,  dass sie sich durch Auflösung und die besagte Zertei- lung eben von den konventionellen Raumauffassungen absetzen.


III. ENTEILTER RAUM

Um die Infragestellung der Raumauffassung zu begreifen, sollte klar sein, wie sich die Landschaft aus der Perspektive des Fahrens darstellt. Susan Paufler gibt mit dem dritten Partizip: „enteilt“ eine Vorgabe, der ich hier nachgehen möchte.

Von der begründeten Vermutung ausgehend, dass die hier ausgestellten Fotos nicht simuliert sind und tatsächlich aus einem fahrenden Zug durch die geschlossenen Fensterscheiben aufgenommen worden sind, empfiehlt es sich zu klären, wie die Bewegungsabläufe beim Blick aus einem fahrenden Fahrzeug im Allgemeinen und einem fahrenden Zug im Besonderen nachzuvollziehen sind.

Die Merkmale der Beobachtung aus dem Fenster eines fahrenden Zuges sind folgende:

1. Ist der Blick im rechten Winkel zur Fahrtrichtung gerichtet, huschen nahe Gegenstände vorbei und sind je nach der gefahrenen Geschwindigkeit und gewählten Belichtungszeit nicht zu erkennen. Die in der Ferne liegenden Dinge stehen relativ still. Auf den dazwischen liegenden Ebenen verschieben sich die Gegenstände um so schneller,  je näher sie zum Betrachter liegen.
Das hat zur Folge, dass sich die Alltagserfahrung umkehrt, nach der die nahen Dinge detailliert zu erkennen sind, während den fernen relativ wenig Aufmerksam geschenkt wird. Diese sind während der Fahrt allerdings die relativ stabilsten, sofern sich nichts zwischen sie und die Beobachter schiebt. 

2. Ist der Blick schräg nach vorne gerichtet – im Zug kann man ja nur aus der Lok nach vorne schauen – so sieht man die Dinge, die im nächsten Moment vor dem Fenster vorbeihuschen schon etwas früher und kann sich darauf vorbereiten, was einer Identifizierung zugute kommt. Diese Betrachtungsweise  erfordert allerdings eine hohe Konzentration und führt zu einer alsbaldigen Ermüdung und Nachlassen der Konzentration.
3. Bleibt noch der Blick nach Hinten. Diese Position ist die des „Engels der Geschichte“ 1) bei Walter Benjamin. Die plötzlich auftauchenden Dinge in der Nähe verschwinden so schnell wie sie gekommen sind, während der so gereizte Blick sich eher den mittleren oder fernen Gegenständen zuwendet. Da diese jedoch entfernt liegen, lassen sich Details nur mit Mühe oder Hilfsmitteln erkennen.

Diese Erfahrungen des aus dem Fenster schauenden Reisenden haben sich im Wesentlichen gehalten, bis die Beschleunigung des Tempos der Züge den Blick aus dem Fenster zu einer Tortur werden ließ, so dass man heute von einer zunehmenden Desorientierung der Reisenden sprechen kann.

Schon in Gründung und Manifest des Futurismus, das vor 100 Jahren veröffentlicht wurde, heißt es:"8. (...) Il Tempo e lo Spazio morirono ieri. Noi viviamo già nell'assoluto, poiché abbiamo già creata l'eterna velocità onnipresente."
 "8. (...) Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffen." 2


IV. DIE ZWIEBELFORM DES RAUMS

Gerardo Dottori3 hat 1925-26 den beobachtbaren Raum einer durchfahrenen Landschaft aus der Sicht des Rennfahrers wie eine Zwiebel dargestellt, die sich in Schichten um das Fahrzeug legt, also von ihm aufgespalten wird und sich hinter ihm wieder schließt. Dadurch erhalten wir ein Bild von den Insassen eines Fahrzeugs, das zwar vom Raum umhüllt, den es durchquert, aber nicht mit ihm verbunden ist. Vielleicht hängt diese Situation des Verschlossenen auch damit zusammen, dass wir in gleicher Weise von Insassen sprechen, wenn wir  Passa- giere oder Gefangenen meinen. Diese phänomenologisch beschriebene Erfahrung des Reisens macht es fraglich, ob die Situation von Reisenden tatsächlich eine der Freiheit oder eher eine des Gefangenseins ist. Sicher sind Reisen und Reisefreiheit aus der Sicht der Menschenrechte ein hohes Gut, doch sind sie von der Phänomenologie her gesehen, mit zunehmender Geschwindigkeit kaum als eine Methode der Raumaneignung zu betrachten. Reisen ist daher heute eine Praxis der Ortsveränderung, welche besonders auch die ästhetische Aneignung der Landschaft zurückgedrängt hat. Der Preis des Reisenden ist  daher
Vernissage 1) Es ist möglich, dass die Auslegung des Engels der Geschichte durch Walter Benjamin ein Produkt der Meditationen eines Bahnreisenden sind.
2) F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo, Le Figaro, Paris, 11.02.1909, S.1
3) Gerardo Dottori: Velocità (Triptychon), Omaggio a Dottori, Galleria „Il Caravaggio“, Roma 1975, Abb. 43-45. Ausführungen zum Mittelbild des Tiptychons in: J.L.Schröder: Monoposto, Mythos und Technik zwischen 1904 und 1927, Magisterarbeit Universität Hamburg 1981, S. 21-22.
Gefördert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirksamt Wandsbek
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