EINSTELLUNGSRAUM e.V. Symposium 2022 autonom | autark | autistsch
Symposium 2022: autonom, autark, autistisch?
16.09.2022
Das Maß des autonomen Handelns – philosophiehistorische Betrachtungen
Dr. Sonja Schierbaum

Sehr geehrte Damen und Herren,
meine lieben autonomen Subjekte,

denn das sind Sie doch, nicht wahr? Autonome Subjekte, spätestens seit Kant dürfen Sie sich so nennen, auch wenn das schon eine ganze Weile her ist, das Erbe der Aufklärung, was fangen wir, als Erben und Erbinnen, bloß damit an? Was können wir uns dafür schon kaufen, von unserem geistigen Erbe der Aufklärung, eine schöne Idee, gewiß, aber da sehen Sie auch gleich, wo das Problem liegt, ein Problem, das auch nicht behoben werden kann, denn die Idee der Autonomie eines Subjekts scheint nicht nur in der Zeit so weit von uns wie die barocken Perücken ihrer geistigen Väter – und Mütter, auch davon gab es einige, auch wenn das wenigerbekannt ist – es ist kein Problem der Mode, das autonome Subjekt ist nicht aus der Mode gekommen wie das Fischbeinkorsett oder andere Arten geistiger Stützvorrichtungen; vielmehr besteht das Problem zumindest auch in dem von jeher schwierigen Verhältnis von Theorie und Praxis. Schon Kant musste sich gegen den Vorwurf seiner Zeitgenossen wehren, seine Moraltheorie tauge nicht für die Praxis, da sie unbedingte, unter allen Umständen einzuhaltende Pflichten aufstelle, und dabei vollkommen außer Acht lasse, dass der Mensch eben nicht nur eine Vernunft hat, sondern auch Gefühle, und das in ganz erheblichem Ausmaß.

Aber es ist nun einmal die Vernunft, die das Maß liefert, den Maßstab für die Moral, für das moralische Handeln, das nach Kant eben das autonome Handeln ist. In der Autonomie steckt eben nicht nur das griechische Selbst drin (autos), sondern auch das Gesetz (nomos), denn irgendwoher muss das Handeln ja seinen Maßstab hernehmen, und dieser Maßstab erhebt nach Kant, wie Sie wissen, auch das ist Teil Ihres Erbes, auf das Sie vielleicht doch lieber verzichtet hätten, aber jetzt ist es eben zu spät, dieser Maßstab also erhebt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit: eine Moral für alle Vernunftwesen, nicht nur für Menschen.

Demnach heißt autonom zu handeln, nach dem für alle Vernunftwesen gültigen moralischen Gesetz zu handeln. Der Anspruch auf Absolutheit geht doch etwas weit, meinen Sie? Aber das ist in der Geschichte der Philosophie die Regel, nicht die Ausnahme. Zumindest müssen Sie nicht weit gehen, wenn Sie nach diesem
allgemeinen Gesetz suchen, denn das liegt in Ihrer eigenen Vernunft, ganz nah also, wenn auch nicht gerade naheliegend; verwechseln Sie Ihre Vernunft bloß nicht mit Ihrer bloß privaten Meinung, darum geht es nicht. Vielmehr geht es darum, dass Sie das allgemeine Gesetz anwenden, wenn Sie handeln, oder das zumindest Ihre privaten Handlungsprinzipien, „Maximen“, wie Kant sie nennt, mit dem allgemeinen Gesetz kompatibel sind – Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Und das können Sie nur, weil Sie ein Vernunftwesen sind. Die Vernunft ist Ihr wesentliches Merkmal, wussten Sie das? Dass die Vernunft die Natur des Menschen ausmacht und ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist natürlich nicht auf Kants eigenem Mist gewachsen; hier ist Kant wiederum Erbe einer Auffassung der Antike mit allem, was dazu gehört; diese hat sich dann durch das christlich-lateinische Mittelalter noch weiter ausgeprägt. Bevor Kant das moralische Gesetz in die menschliche Vernunft hineinverlegte oder anders gesagt: bevor die Vernunft von Kant selbst zum moralischen Gesetz erhoben wurde, war sie nur das Mittel, das Gesetz zu erkennen. Denn das Gesetz lag vorher in der Natur der Dinge, außerhalb des Menschen, „in der Welt“, wenn Sie so wollen. Kant steht hier am Ende einer langen Entwicklung, die spätestens mit dem christlich-lateinischen Mittelalter beginnt, mit dem sogenannten Naturecht.

Beachten Sie, dass im Mittelalter die Vorstellung einer natürlichen Ordnung sowohl den Bereich dessen umfasst, was wir heute als Bereich der Physik und der Naturgesetze bezeichnen würden, als auch den Bereich der Ethik oder Moral. Das mag uns noch fremder anmuten als die Barockzöpfe der Väter unserer Aufklärung. So bezeichnet der Begriff des Gesetzes (lex) ganz generell die „dem Kosmos innewohnende, der Schöpfung durch ihren Urheber eingegebenes Bewegungsprinzip“ (Schwab, S.2). Es entspricht aber ganz dem mittelalterlichen Denken, dass diese „natürliche Seinsordnung“ auch den Bereich der Ethik und Moral betrifft, der genauso zu der Ordnung der Welt gehört wie das physikalische Gesetz der Gravitation. Das Problem ist natürlich, dass die Gesetze der Physik rein deskriptiv sind: Das Gesetz der Schwerkraft beschreibt, wie sich alle materiellen Dinge auf der Welt demnach verhalten. Das moralische Gesetz schreibt aber vor, wie Menschen, als Vernunftwesen, handeln sollen: es ist präskriptiv, nicht deskriptiv.

Hier tut sie sich also auf, die Kluft zwischen dem Sein und dem Sollen. Diese lässt sich auch nicht überbrücken, durch nichts; versuchen Sie es nur. Aber trösten Sie 
back next

Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Bezirk Wandsbek