Der Fortschritt und das Innehalten - Eröffnungsrede zur Ausstellung „Yukari Kosakai - Schritte zum Gegenpol“ von Dr. Thomas Piesbergen
Die Ausstellung "Schritte zum Gegenpol" von Yukari Kosakai im EINSTELLUNGSRAUM e.V. findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Drehmoment 2017".

In der Kulturtheorie stehen sich seit jeher zwei unterschiedliche und bisher unvereinbar scheinende Konzepte gegenüber, die heute vor allem in ihren Inkarnationen des Strukturalismus und des historischen Materialismus verbreitet sind:

Im Strukturalismus fungiert die kulturelle Bedeutung als Ordnungsmacht. Alle natürlichen Erscheinungen und Gegebenheiten erlangen ihre Bedeutung erst durch die vom Menschen vorgenommene Zuweisung. Die hervorgebrachte Kultur ist also kein zwangsläufiges Ergebnis einer Adaption, sondern hat die Möglichkeit, sich innerhalb gewisser Grenzen frei zu entfalten, weshalb dieses Verständnis menschlicher Kultur auch als Possibilismus bezeichnet wird.


Dem gegenüber steht der historische Materialismus mit all seinen Ableitungen wie Funktionalismus, Utilitarismus etc. Nach dieser Sichtweise wird die Kultur lediglich als das Ergebnis einer Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten verstanden; dementsprechend erhalten alle Dinge und Erscheinungen nur eine Bedeutung, insofern sie in subsistenziellen und ökonomischen Zusammenhängen eine Rolle spielen. Die Kultur stellt also nichts anderes dar als die biologische Anpassung an eine Lebensumwelt mit anderen Mittel. Sie wird von den Gegebenheiten bestimmt. Aus diesem Grund wird dieses Kulturkonzept auch als Deter-minismus bezeichnet.

Der Zankapfel des wissenschaftlichen Disputs besteht also in der Frage, ob wir unsere Umwelt nach der Schablone unserer kulturellen Vorstellungen und Werte nutzen und gestalten, oder ob umgekehrt unsere Umwelt unsere kulturellen Vorstellungen und Werte überhaupt erst hervorbringt.
Es liegt auf der Hand, daß diese Frage genauso unbefriedigend beantwortet werden kann, wie die Frage nach Henne oder Ei.

Der große Anthropologe und Kulturtheoretiker Marshall Sahlins schlug in seinem Werk „Kultur und praktische Vernunft“ eine Differenzierung vor, die jeder dieser Perspektiven innerhalb gewisser Grenzen ihre Berechtigung geben sollte:
Der Strukturalismus sei besser geeignet, ahistorische Gesellschaften zu beschreiben, der historische Materialismus hingegen eigne sich besser für historische, „zivilisierte“ Gesell-schaften. Damit brachte er einen Aspekt ins Spiel, der im weiteren kulturwissenschaftlichen Diskurs leider viel zu selten aufgegriffen worden ist, der für uns aber von großem Interesse ist, nämlich den des Zeitverständnisses und seiner Bedeutung für das kulturelle Selbstbild.

Die vom Strukturalismus beschriebenen ahistorischen Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß sie fest im Mythos verankert sind. Im Mythos ist ihre soziale und ökonomische Struktur eingeschrieben und alle Erscheinungen erhalten ihre Bedeutung, in dem sie im Rahmen des Mythos interpretiert werden und ihre Entsprechung in ihm finden.
Im Sinne des fließenden Bewußtseins ist der Mythos stets gegenwärtig; und wenn die mythologischen Ereignisse im Maskentanz oder anderen Riten nachvollzogen werden, spielen die Darsteller nicht, sie wären die jeweiligen Geister und Gottheiten, sondern für die Dauer des Ritus sind sie die Geister und Gottheiten, ihre realen Verkörperungen, ebenso wie die dargestellten Vorgänge den Mythos nicht nur abbilden, sondern ihn real nachvollziehen.

Es ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, daß der Mythos und die in ihm enthaltene Struktur unverändert von Generation zu Generation reproduziert wird, denn erst der zyklische Vollzug der Riten und gesellschaftlichen Routinen gewähren den Erhalt der Zyklen der Natur. Die Natur wird wahrgenommen als ein sich stets erneuernder Kreislauf, die Zeit als kreisförmig sich erneuernd, weshalb es essentiell ist, die Stabilität der Kultur und den entsprechenden Ritus in exakt der tradierten Form zu erhalten.

Die Welt spielt sich also ab in einer ewigen Gegenwart. Das menschliche Handeln kann nicht auf das Erreichen eines fernen oder sich wandelnden Ziels reduziert werden. Zum einen ist das Ziel des kulturellen Handelns  in ahistorischen Kontexten immer das Gleiche. Zum anderen ist die Durchführung des ritualisierten Handelns mindestens ebenso wichtig wie das Ziel selbst.
 

Die 8. Ausstellung zum Jahresprogramm DREHMOMENT, 2017 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
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Präsentation
Vernissage
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