Spannungs- und Bedeutungsfeld sich eine treffende und entlarvende Zustands-beschreibung der postindustriellen Zivilisation ablesen läßt.

Das Automobil tritt uns in Form hermetisch in sich geschlossener, hohler Metallkörper entgegen. Sie alle bestehen aus zwei zusammengeschweißten, polierten Blechen und wirken wie aufgeblasen oder gedunsen. Eine Seite ist jeweils mit der Außenaufnahme eines Autos aus Google-Earth-3D bedruckt, die andere mit einer Aufnahme des Innenraums. Die Flächen, an denen sich die Fenster befinden, wurden jeweils unbedruckt belassen, sodaß der Betrachter darin sein eigenes mattes Spiegelbild erahnen kann. Die Oberfläche wird also zum Innenraum und schließt sich in einem introspektiven, statischen Loop, der mit der geschlossenen Objektform korrespondiert. Der Blick hat sich bereits stellvertretend durch digitales Mapping ereignet, der Betrachter selbst wird zu einer passiven, peripheren Erscheinung in diesem materialisierten Zustand der Rückkoppelung.

Neben den isolierten automobilen Entitäten sehen wir eine Reihe von Windschutzscheiben, auf denen sich, wie auf Displays, Abbildungen von Landschaften befinden. Die wahrzunehmende Außenwelt liegt nicht jenseits der Scheibe, sondern ist Teil von ihr geworden, sie ist etwas, das nur noch denkbar ist als ein Aspekt unseres individuellen, von der Umgebung sorgsam abgeschotteten Vehikels.

Die gezeigten Landschaften sind ebenfalls Screenshots von Google-Earth-3D und zeigen einen Ort, der eng mit einem wissenschafts- und sozialgeschichtlichen Ursprungsmythos verbunden ist. Es sind Bilder der Galapagos-Inseln, die nicht nur eine der letzten unberührten Regionen der Erde darstellen, sondern als eine der Stationen verstanden werden, an denen der Formierungsprozess von Darwins Evolutionstheorie seinen Anfang nahm. Die besonders von den Neodarwinisten betonte permanente Konkurrenz der Individuen als alleinigem Motor der Entwicklung befeuerte wiederum das Narrativ des individuellen Kampfes um das Glück, das im Zentrum der calvinistischen, kapitalistischen und neoliberalen Logik steht.
Genauso erfüllen die Galapagos-Inseln das Narrativ des Gelobten Landes. Unter Seefahrern waren sie bis in das 19. Jahrhundert unter dem Namen Islas Encantadas bekannt, die „Verzauberten Inseln“, und man sagte ihnen wegen der starken, sie umgebenden Strömungen nach, dass sie ohne festen Ort auf dem Ozean umhertrieben.
Ihre isolierte Lage und die einmalige endemische Fauna und Flora machen sie zudem zu einem exotischen Paradiesgarten unberührter Natur und damit zu einer Metapher zivilisatorischer Sehnsucht nach einer Umwelt vor dem zerstörerischen Sündenfall der Industrialisierung. Doch durch die virtuelle Hypermobilisierung ist dieser Ort schließlich allseits zugänglich geworden und nur wenige Mausklicks entfernt.

Die von Google Earth eingefangenen Bilder aber tragen einen entscheidenden digitaler Fehler in sich: auf zweien interpretierte der Algorithmus von Google die Wolkenformationen über den Inseln als Merkmal ihrer Oberfläche. Er erzeugte also virtuelle Bilder, die im wahrsten Sinne des Wortes  einen „Himmel auf Erden“ darstellen. Damit wird ihnen unbeabsichtigt jeder Anspruch auf Authentizität genommen. Sie werden entlarvt als Konstruktionen, die uns zugleich den utopischen Charakter unserer eskapistischen  Sehnsüchte, befeuert von dem Narrativ des Gelobten Landes, widerspiegeln.

Und selbst diese Fluchtphantasie kann nur ausagiert werden als Aspekt der Interaktion mit unserem individuellen und isolierenden Vehikel, sei es das digitale Interface zum navigieren im raumlosen Raum des Internets oder das Automobil mit hermetischer Fahrgastzelle, in der wir uns irrealen Bildern eines Ortes aussetzen, an dem noch niemals ein Automobil gewesen ist.

So erweisen sich in dem Werkkomplex "Sehen Sucht" von Esther Heltschl die drei verhandelten Narrative als das, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich keine Beschreibungen tatsächlicher Gegebenheiten der Wirklichkeit, sondern lediglich kulturell ererbte erzählerische Operatoren, mit denen wir versuchen unseren Handlungen in einer uns nur begrenzt zugänglichen und verständ-lichen Wirklichkeit eine sinngebende Struktur zu verleihen.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Juni 2022
Präsentation
Vernissage
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