In einem anderen Bereich ihrer Arbeit beschäftigt Heilwig Jacob sich mit dem Ineinandergreifen und Verdichten verschiedener Sinneseindrücke zu Erinnerungsräumen.

Mal sind es Versuche, kleinste Erinnerungskomplexe aus akustischen und visuellen Eindrücken mit einem Zeichenprogramm auf dem Smartphone festzuhalten, die anschließend mit fast wissenschaftlicher Anmutung mit Erläuterungen versehen werden, um sie wieder dechiffrierbar zu machen und damit auch für andere nachvollziehbar.

Dann wiederum arbeitet sie mit Streifencollagen. Grundlage dieser Collagen sind erinnerte Tonwerträume von für sie bedeutsamen Orten, die zuerst als Malerei Gestalt annehmen. Doch sobald die Farbe getrocknet ist, müssen sich die Bilder den Bedingungen der ans enge Gegenwartsfenster gebundenen Wahrnehmung unterwerfen.

So wie unsere aufrechten Körper sich durch den Raum bewegen und wir versuchen, im Nachhinein einzelne fragmentarische Beobachtungen zu einem Ganzen zusammenfügen, so zerschneidet Heilwig Jacob die malerisch strukturierten Farbflächen in schmale, vertikale Streifen und fügt sie zu den gezeigten Collagen zusammen, in denen sich die Erinnerung nicht mehr als vermeintliche Totalität zeigt, sondern als Konstrukt, das einen zeitlich segmentierten Vollzug nachbildet.


In einer Arbeit kombiniert sie diese Vorgehensweise noch zusätzlich mit den rezeptiven Überlagerungen, die uns bereits bei der Fensterarbeit und der Videoinstallation begegnet sind.

Die Gliederung der Streifencollagen führt uns schließlich über das Motiv der Vertikalität zu der letzten Arbeit der Ausstellung, die ebenfalls im Keller zu sehen ist: dem Wahrnehmungsbaum.

Wie bereits erwähnt, scheint es dem Menschen trotz aller Beschränkungen seiner Wahrneh-mungsfähigkeit doch möglich zu sein, eine Ganzheit jenseits der Bruchstück seiner Welt zu erahnen, die sich der Logik der Alltagswelt entzieht.

Diese Polarität drückt sich in dem universellen Gegensatz zwischen einer horizontalen, profanen Ordnung der Welt und einer transzendenten, vertikalen Ordnung aus. Die vertikal konzipierte  Wirklichkeit, die Axis Mundi, wird mal repräsentiert durch den Weltenberg, mal als
Pfeiler des Himmelsgewölbes, meist jedoch als Weltenbaum, den wir in der germanischen Mythologie als Ygdrasil, die Weltenesche kennen. Dieser Weltenbaum befindet sich im allgegenwärtigen Zentrum der Wirklichkeit und ermöglicht im schamanischen Denken den Auf- oder Abstieg in andere göttliche oder dämonische Regionen, in den Himmel oder die Unterwelt. Mit seinen Wurzeln und dem Geäst nimmt er nicht nur eine durch das Koordinatensystem geordnete, zweidimensionale Fläche ein - die dem Menschen zugewiesene Ebene der Wirklichkeit  - sondern wächst ausgreifend durch alle Ebenen in den Raum.

In einzeln stehenden, von einer umlaufenden Aluminiumrohrbank eingefaßten Stadtbäumen, wie man sie heute in fast jeder Fußgängerzone vorfindet, hat Heilwig Jacob eine ideale Repräsentation dieses Gedankenmodels gefunden:
Wie eine Kompassrose sind die runden Bänke in vier Segmente unterteilt. Unsere Blicke werden dem horizontalen Kreis folgend geführt und ermöglichen uns jeweils nur einzelne Segmente des Ortes wahrzunehmen, die wir bestenfalls in unserer Gedankenwelt wieder zu einer Totalität zusammenzufügen versuchen.

In einem Drahtmodel des Weltenbaumes nimmt eine CD, ein Speichermedium, den Platz der umlaufenden Bank und des menschlichen Beobachtungspunkts ein. Die schlaglichtartigen Blicke, mit der wir unsere Umwelt zu erfassen versuchen, finden ihre Entsprechung in kleinen, runden, auf Folien kopierten Fotografien, die wie Schmetterlinge mit Nadeln an die umgebenden Wände gepinnt sind.
Ergänzt wird die Installation durch Skizzen, die tatsächlich auf einer solchen Bank entstanden sind, doch der Versuch, die Fragmente zu einem Ganzen zusammenzufügen, erschöpft sich in der Zusammenführung der Skizzen in Form eines Buches, dessen Seiten wir ebenso wenig auf einen Blick erfassen können, wie die 360° des ganzen Umlaufs.
Das vertikale Zentrum, das umfassende, wahrnehmende Ausgreifen in alle Bereiche der Wirklichkeit, bleibt, wohin wir uns auch wenden, in unserem Rücken verborgen, so wie wir dazu verdammt sind, auf der horizontalen Ebene der Wahrnehmung zu verharren. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit unsern beschränkten Mitteln und Sinnen darum zu bemühen, die Ganzheit zu erahnen.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2016

Die 07. Ausstellung im Jahresprogramm SPEICHERN | AKKUMULIEREN des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2016
Vernissage
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