ander abweichender Erinnerungen, die Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerungen anzuerkennen. Hier entpuppt sich also das Fundament unserer aus vorgeblichen Tatsachen konstruierten Welt einmal mehr als Treibsand.

Eine weitere Einschränkung ergibt sich durch die Ausbildung unserer Sinnesorgane und den daraus sich ableitenden Strategien der Wahrnehmung und Realitätskonstruktion, denn nach den erkenntnisbiologischen und systemtheoretischen Überlegungen von Konrad Lorenz, Karl Popper, Rupert Riedl und anderen, sind wir nur imstande, das wahrzunehmen, was für unsere evolutionäre Bedingtheit von Bedeutung ist. Alles andere jenseits dieses kleinen Ausschnitts entzieht sich uns, so können wir, wie z.B. kein Ultraviolettes Licht sehen wie die Bienen, kein Infrarot wie die Mücken, keinen Ultraschall hören wie Fledermäuse, keinen Infraschall wie Elefanten, sind entsetzlich kurzsichtig im Vergleich zu Greifvögeln und olfaktorische Krüppel im Vergleich zu fast allen anderen Tieren.

Wir sind also zurückgeworfen auf eine durch unsere Sinne vorselektierte Gegenwart, die nur wahrgenommen werden kann, wenn sie beim Durchgang auf die inneren Strukturen unserer Erinnerung, also auf das Speicher-Medium selbst einwirkt.

Von innen betrachtet erscheint uns jeder Moment das ganze Universum zu umschließen, von außen betrachtet erscheint das Universum aus unendlich vielen, jeweils stark eingeschränkten Momenten zusammengesetzt.
Und trotzdem sind wir imstande, etwas jenseits dieser Begrenztheit und jenseits des Fragmentarischen zu erahnen - eine anders geartete, transzendente Ganzheit.

Dieses Begrenzte und Fragmentarische begegnet uns bereits auf dem großen Fenster des Einstellungsraums wieder. Mit Kreidefilzstiften, leicht abwischbar und entsprechend vergänglich wie Erinnerungspartikel, hat Heilwig Jacob kleine und kleinste Wahrnehmungen festgehalten.

Dabei sind nicht nur visuell wahrnehmbare Dinge und Ereignisse skizziert und Bewegung nachvollzogen worden, sondern auch Akustisches wurde auf synästhetische Weise umgesetzt.


Analog zu dem fragenden Kind hat Heilwig Jacob einzelne Wahrnehmungsereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln wiederholt. So begegnet uns z.B. die Form eines roten Mülleimers an verschiedenen Orten des Fensters wieder, sodaß wir den Ortswechsel rekonstruieren können, den die Künstlerin vorgenommen hat.
Der Betrachter beginnt von selbst den Abgleich zwischen Abbild und Motiv vorzunehmen, die Entsprechung der Erinnerungsspur auf dem Speichermedium mit der noch vorhandenen äußeren Welt zu suchen - und er beginnt gleichzeitig Wahrnehmungsereignisse zu imaginieren, z.B. angesichts der mit dem Stift nachvollzogenen Bewegungen eines Fahrrads.

Hier beginnt sich bereits die rezipierte Gegenwart mit einer Erinnerung zu überlagern. Denn selbst wenn wieder ein Fahrrad einen nahezu identischen Weg fahren sollte, der der Erinnerungsspur zu entsprechen scheint, beginnt hier eine Übertragung, die nur unter Vorbehalt zulässig ist. Es wird etwas wiedererkannt, doch es ist nicht dasselbe - ja nicht einmal das Gleiche. Es findet lediglich ein Abgleich mit einem bereits vorhandenen Muster statt.

Auch zu einem abstrakteren, reflexiven Abgleich von Erinnerung und Wirklichkeit finden wir eine Analogie in einzelnen dünnen Lagen Plexiglas, die vor der Scheibe hängen und u.a. einen Rapport des roten Mülleimers zeigen. Dem Betrachter bleibt es überlassen zu deuten, ob das beobachtete Objekt selbst wiederholt wird, oder bereits dessen Abbild einen zweiten Prozess der Repräsentation durchläuft.

Wie dieser Musterabgleich auch in die Irre führen kann, zeigt eine Installation im Keller: auf eine Leinwand ist ein flüchtiges Raster gemalt, das mit Diaprojektionen von den Hausfassaden gegenüber des Einstellungsraums überdeckt wird. Sofort beginnt der Blick einen Abgleich des gemalten Musters mit dem Raster der Fenster zu suchen, und immer wieder glaubt man, in kleinen Momenten eine Kongruenz aufblitzen zu sehen, die uns glauben macht, ein identisches Beobachtungsereignis würde sich lediglich in anderem Gewand wiederholen.

Doch das vermeintliche Fassadengitter auf der Leinwand ist keinesfalls eine Skizze der Häuserfronten, sondern der Gehwegplatten vor der Galerie.

Hier werden also aufgrund visueller Entsprechungen Zusammenhänge konstruiert, die außer- halb der idiosynkratrischen Situation der Wahrnehmung nicht vorhanden sind. Wir können exemplarisch nachvollziehen, wie der Mechanismus der Mustererkennung in diesem Fall nicht dazu beiträgt, durch Wiederholung eine Beobachtung zu verifizieren, sondern durch scheinbare Zusammenhänge zu verhüllen und zu verwirren, und uns dazu verleitet, falsche Schlüsse zu ziehen, eine wahnhafte Wirklichkeit zu konstruieren.
Die 07. Ausstellung im Jahresprogramm SPEICHERN | AKKUMULIEREN des EINSTELLUNGSRAUM e.V. 2016
Vernissage
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