Struktur und Normierung in Opposition zum widerständigen Individuum begegnen uns in den Bildern aber nicht nur auf der metaphorisch abbildenden Ebene, sondern auch in formellen Aspekten: Der Urgrund des Selbst, der noch formlose Wille zur Lebendigkeit wird repräsentiert durch die lebendigste aller Farben: das dominante Rot.
Die Linienführung der Zeichnungen hingegen scheint diese Kraft mit aller Macht zähmen zu wollen. Ihr fehlt jede Spontanität und sie zeugt von dem geduldigen, kontrollierten Prozess der Bild- und Realitätskonstruktion, der nur in wenigen Momenten gebrochen wird von eskalierendem Rot oder von spontanen Fingerabdrücken, die ihre unwiderlegbare Individualität und Authentizität behaupten.

Kontrolle und Normierung begegnen uns aber auch in Form ganz konkreter und kulturell signifikanter Bildzitate.
Da sind die bereits erwähnten idealisierten Figuren der Revuefilme aus den 30er Jahren sowie Fotomodelle aus Modemagazinen, die damals wie heute nicht nur als Wunsch-Selbst dienen, sondern auch als Rollenklischees, mit denen Frauen eine bestimmte, eng begrenzte gesellschaftliche Rolle zugewiesen werden soll. Sie erfüllen also auch die Funktion symbolisch-struktureller Steuerungselemente, die gesellschaftliche Regeln und Hierarchien postulieren.

Diesen Rollenklischees zur Seite gestellt und in ihrer Erscheinung zum Verwechseln ähnlich, aber mit einer sozio-kulturell entgegengesetzten Motivation geschaffen, sehen wir auf mehreren Bildern die Superheldin

Wonder Woman in Aktion. Die Amazone Wonder Woman, die mit ungetrübtem Bewusstsein ihrer Weiblichkeit, einer nahezu grenzenlosen Fähigkeit zur Liebe und Vergebung und einer geschickt verschleierten sexuellen Ausrichtung der von Männern beherrschten Welt die Stirn bot, wurde in den 40er Jahren zu einer popkulturellen Leitfigur des Feminismus und zur Identifikationsfigur lesbischer und bisexueller Frauen.

Denn ebenso gut wie es medial transportierten Rollenbilder gelingt, auf uns zuzugreifen und uns auch gegen unseren Willen unterbewußt zu manipulieren
oder sogar zu prägen, so können auch wir in dem vielfältigen Fundus der kulturell tradierten Narrationen und Bilder aktiv nach identitätsstiftenden Rollenbildern suchen, die uns helfen, uns von repressiven Normen zu befreien, indem sie neue Normen propagieren, die zuvor unterdrückten Aspekten unseres Selbst zur Blüte verhelfen können. Tatsächlich können Normen und Rollenbilder also nicht nur zur Regulierung, sondern ebensogut zur Deregulierung beitragen.

So hilft der Blick in die Welt nicht nur zu erkennen, was uns geformt hat, sondern er hilft uns auch, in dem er uns Alternativen aufspüren lässt, mögliche Wunsch-Identitäten anzunehmen, mit denen wir überkommene, repressive Prägungen überschreiben können. Auf diesem Weg kann auch das fremde Gesicht zum Selbstportrait werden.

Dieses hier angedeutete Ringen des beobachtenden Selbst mit dem beobachteten Selbst, der Diskrepanz zwischen dem was wir sind, dem was wir von uns sehen können, dem was wir gerne wären und dem, was wir in den Augen anderer sein sollten, findet schließlich einen wunderbaren Ausdruck in einer Zeichnung, die von Caravaggios „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ inspiriert worden ist. Zwei in der Aufsicht dargestellte Figuren, offenbar beides Selbstportraits, befinden sich in einem Ringkampf und bilden dabei eine Form, die an ein noch nicht zur Geschlossenheit gelangtes Ying-und-Yang-Zeichen erinnert.

Hier dient ein vorgefundenes und umgeformtes Bild, um zu verdeutlichen, wie wir versuchen in einer Welt aus vorgefundenen Normen und Strukturen eine authentische Repräsentation unserer Selbst zu finden, unseren Widerwillen, das gefundene oder mittels verschiedener Modelle konstruierte Spiegelbild anzunehmen, und vielleicht auch die Notwendigkeit schließlich mit der Zwienatur unseres Selbst, mit dem sich stets verändernden Zyklon aus externalisiertem Selbst und internalisierter Welt, mit der Identität im steten
Transfer, Frieden zu machen.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, September 2019

Die 07. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
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