Folgen wir dieser Ansicht, so verrät uns also nicht nur der Blick in uns selbst etwas über die äußere Welt, sondern der Blick in die äußere, von uns geschaffene Welt verrät uns etwas über unser kulturelles Selbst, dessen Handlungsmuster diese Welt hervorgebracht haben.

Um trotz dieses divergenten Diskurses kulturelle Tatbestände beschreiben zu können und der Dynamik kultureller Reproduktion gerecht zu werden, wird in der ethnologischen Theorie seit etwa drei Jahrzehnten oft mit dem Begriff der strukturierenden Struktur gearbeitet. Mit ihm werden vom Menschen geschaffene Erscheinungen in unserer kulturellen Matrix bezeichnet, die auf physischem, soziologischem oder politischem Weg unsere Handlungen rückwirkend regeln.
Eben so gut können wir aber auch uns selbst als strukturierende Strukturen begreifen. Der Mensch und seine Umwelt sind beides Teile eines sich selbst regulierenden Systems geworden.


Diese Inversion der Perspektive und die Zweigleisigkeit der Beziehung von Selbst und Welt ist auch in der Geistesgeschichte nachzuvollziehen. So wie zuerst in der Antike und später in der frühen Renaissance das Selbst zum Spiegel der Welt wurde, wurde in der Spätrenaissance und Reformationszeit schließlich auch die Welt zum Spiegel des Selbst. Diesen in Gegenrichtung gewendeten Blick finden wir z.B. bei Michel des Montaigne, der schrieb: „Diese große Welt ist der Spiegel, in den wir hineinschauen müssen, um uns von Grund auf kennen zu lernen.“, sowie später bei William Makepeace Thackeray, in dessen Jahrmarkt der Eitelkeiten es heißt: „Die Welt ist ein Spiegel, aus dem jedem sein eigenes Gesicht entgegenblickt.“
Das „Gnothi seauton“ ist zu „Gnothi ton kosmon“ geworden, das „Erkenne dich selbst“ zum „Erkenne die Welt“.

Doch der Weg der Erkenntnis ist in beiden Richtungen ein steiniger. Denn gerade gegenwärtig scheint sich der Blick nach außen zu verlieren in zahllosen Vorspiegelungen des Lebens. Wir sind umgeben von einem so dichten, betäubenden Nebel aus Scheinkonflikten, Fehlinformationen, projizierten Wunsch-Identitäten und ihrem inszeniertem Scheinleben, von widerstreitenden Rollenbildern und Wertesystemen, dass es kaum möglich scheint, in einer regellos anmutenden Gegenwart eine authentische Repräsentation des Selbst zu finden.
Oder wir begeben uns in die unbehagliche Lage anzuerkennen, dass gerade dieser Mangel an Authentizität unser kulturelles Selbst sehr wohl und vielleicht am wahrhaftigsten abbildet.


In diesem Spannungsfeld sind die Arbeiten des Tableaus „100 Zeichnungen“ von Gabriela Goronzy angesiedelt, deren beherrschendes, immer wieder kehrendes Element das Selbstportrait ist.
Zunächst sind einige klassische frontale Blicke in den Spiegel darunter, die Künstlerin sieht sich selbst in die Augen und ihr Bild anschließend dem stellvertretenden Betrachter. Sie scheinen der delphischen Losung „Erkenne dich selbst“ zu folgen.

Doch diese schlichtest mögliche Anordnung wird auf mehreren anderen Blättern bereits erweitert: Über zusätzliche Spiegel bildet sich die Künstlerin beim Blick auf das eigene Spiegelbild ab und zeigt damit die Dyade von Beobachter und beobachtetem Objekt auf. Das, was der Beobachter sehen kann, hängt von der Wahl seiner Perspektive ab. Auch bei der Selbstbe-trachtung im Spiegel bleiben gewisse Bereiche immer unbeobachtbar. Das Beobachtete kennzeichnet also auch immer die Grenzen der Wahrneh-mungsfähigkeit des Beobachters und erst wenn man den Beobachter mit in das Bild einbezieht, erhält man ein annähernd vollständiges Bild
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Die 07. Ausstellung zum Jahresprogramm Regeln regeln. Regeln regeln! 2019 des EINSTELLUNGSRAUM e.V.
Präsentation
Vernissage
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