nannte. Auf Vögel beziehen sich auch optophonetische (bildlich typografierte und gleichzeitig sprechbare) Gedichte von Kurt Schwitters. Zu erwähnen ist ein Gedicht über die Vogelscheuche von 1925, in dem aus unterschiedlich großen Lettern „O“, „I“ und „P“ ein Hühnerkörper montiert wurde. Schwitters favorisierte ein stärker visuell ausgerichtetes typo- graphisches Experiment, das im Vergleich zu Chlebnikov bodenständig erscheint, der klangliche Referenzen zum Gesang der Vögel vorzog. Beide Arbeiten belegen zugleich die Spannbreite dessen, was im Rahmen des Freien Vers gestaltet wurde.

Fragt man nach den Beziehungen zwischen Wortkunst und den Wurzeln dieser Kunstauffassung, so ergeben sich  Verbindungen unmittelbar aus Galeanos jüngsten Aktivitäten als Kurator. Während der Vorbereitung zu dieser Ausstellung organisierte er am Instituto Cervantes Berlin ¡poesíAcción!, drei Abende mit Performances von jüngeren in der dadaistischen Tradition stehenden Vertretern der spanischen Freiwortkunst, darunter Esther Ferrer und Joan Casellas. Diese wurden innerhalb der Ausstellung „Escrituras en Libertad“ vorgestellt, die Beispiele visueller Poesie des 20. Jahrhunderts aus Spanien und Lateinamerika präsentierte. Setzte die Ausstellung mit einem voluminösen Katalog gleichen Titels der POESÍA EXPERIMENTAL ESPAÑOLA E HISPANOAMERICA DEL SIGLO XX2 ein Denkmal, zeigte die aktuell und live vorgetragene experimentelle Poesie, dass diese interdisziplinären Experimente mit Versatzstücken aus Literatur, Graphik, Buchkunst, Musik,  Performance und Installation einen anhaltenden lebendigen Austausch zwischen den Künsten und zwischen den Epochen in Gang halten. Somit wird ein Licht auf die starke Verankerung der spanischen Avantgarde in der Literatur
geworfen, die bis in das Mittelalter zurückreicht. Nicht zufällig ist das Katalanische Institut für Sprache und Kultur nach Ramon Llull benannt. Dieser - 1232 in Palma auf Mallorca geboren - war Mystiker und Philosoph und gilt als Initiator der Kombinatorik, welche die Freiwortkunst begründet hat.3 Auf Llull gehen nicht nur der Freie Vers sondern auch die Mechaniken und Listen zur Kombination von Worten zurück, die bis heute als Vorläufer von Wortma- schinen und letztlich computergenerierter Wortkunst gelten.

III.    Flugkünste

Vor dieser mit Llull in der Theologie wurzelnden Tradition ist die Verwendung des an ein Kreuz geschlagenen Christus nur oberflächlich gesehen blasphemisch; denn Kreuzigung und Auferstehung sind neben den Ausführungen des NTs auch auf kosmologische Zusammenhänge zurück- zuführen. So weist die Geste der ausgebreiteten Arme ohne das Holzkreuz viel deutlicher auf eine Umfassung des Weltkreises oder die Haltung eines fliegenden Menschen hin. Diese wird auch von Turmspringern einge- nommen und findet sich in der Christusdarstellung auf dem Fresko in der Oberkirche von Assisi, wo schon Giotto über die Ikonographie der Kreuzi- gung hinauswies. Er stellt dem Heiligen Franz, der die Stigmatisierung empfängt, einen Jesus gegenüber, der ohne sein Kreuz von drei Flügel- paaren getragen als ein kosmisches Wesen erscheint.

Das Objekt Galeanos ersetzt das Kreuz als ambivalentes Sinnbild der Folter, der Todesdrohung und der Erlösung durch eine als Symbol nicht minder ambivalent wirkende Rakete als ein zeitgenössisches Bild der
2 Madrid 2009
3 Eine Kurzdarstellung des Denkens und Wirkens Llulls findet sich in: Frances A. Yates: The Occult Philosophy in the Elizabethan Age, London 1979, dt.: Die okkulte Philosophie im elisabethanischen Zeitalter, Amsterdam 1991, S. 11 – 18. Mit Llull bevorzuge ich übrigens die katalanische Schreibweise, die anders als die in der wissenschaftlichen Literatur übliche Schreibweise auch rückwärts gelesen werden kann, mithin ein Palindrom ist. Gustav René Hocke hat schon 1957 in „Die Welt als Labyrinth“ auf die Fortsetzung dieser Tradition im Manierismus und in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts hingewiesen.

Dokumentation Andrés Galeano
Vernissage
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